Das besondere Produktionserlebnis – Mit der Dichterin durch Vorpommern

Gisela Kraft gehört zu den wunderbarsten, außergewöhnlichsten Begegnungen meines Lebens. Dass ich mich ihr so sehr nähern durfte, dass daraus eine Porträt-Produktion werden durfte, bleibt auf der Habenseite für mich – auch wenn diese Arbeit niemand haben wollte. „Ach, das ist doch die Verrückte, die über die innerdeutsche Grenze in der falschen Richtung gewechselt ist“, meinte ein Kulturredakteur meines Senders, der gerade dabei war, die Ostgeschichte neu zu sortieren.

Vielleicht sollte der Wikipedia-Eintrag mal überarbeitet werden. Dass Gisela Kraft 1984 von Westberlin in die DDR übersiedelte, erklärt sich nicht mit der oberflächlichen politisch-ideologischen Messlatte. Wer es genauer wissen will, möge zuhören. Es hat etwas zu tun mit Ostberliner Verlagsleuten, die an ihrer Arbeit interessiert waren, und mit mythischen Tieren, von denen ihr eins auf Usedom begegnete. Die Katzenfreundin, die es eigentlich nach Anatolien zog, fand auf der Insel eine Katze, die ihr signalisierte, dass der Orient schon an der Oder beginnt.

Gisela Kraft 1997 am Feldrain in Klein Bandelvitz über ihre Entdeckung des nahen Ostens bei den Sorben und des Orients auf der Insel Usedom

Das Interview und die Gedichte für meine Produktion nahmen wir auf, nachdem wir uns in Greifswald auf dem Bahnhof getroffen hatten und gemeinsam mit dem Zug auf die Insel Rügen gefahren waren. Unser Ziel war ein Ort der Kindheit meiner Autorin. Die Kriegswirren hatten ihre Familie auf den Gutshof Klein Bandelvitz verschlagen. Dort fragten wir die Hausherrin, ob wir uns auf ihrem Grundstück einen Ort für eine Tonaufnahme suchen dürften. Dass diese Frau keine weiteren Fragen stellte, ist schon beachtenswert, denn wir waren ein ungewöhnliches Paar. Gisela Kraft konnte nicht gut laufen infolge eines Hüftschadens. So traten wir auf als die Lahme und der Blinde. Und wir setzten uns an den Feldrain, um unsere Aufnahmen zu machen mit meinem zu billigen Mikrofon.

Es ging mir darum, eine bestimmte Seite aus dem literarischen Werk der damals wohl bedeutendsten Übersetzerin aus dem Türkischen zu magischem Leben zu erwecken – die Gedichte, die im Landstrich Vorpommern zu verorten waren, die dieser hier.

Wie hatte ich die zu dieser Zeit in Weimar lebende Dichterin eigentlich kennen gelernt? Es war bei einem Lesekonzert im September 1994, zu dem Gisela Kraft mit meiner Bekannten Barbara Thalheim nach Greifswald gekommen war. Sie gab in dem Programm „Müllnahme“ sehr überzeugend eine infolge einer Wohnungsräumung versehentlich obdachlos gewordene Frau mit Flachmann auf Parkbank, sinnierend über die Dinge des Lebens.

Drei Jahre später fuhren wir also gemeinsam mit dem Zug durch das mit Texten aufgeladene Land.

Hier nun ist Gelegenheit, meine Produktion aus 1999 in Gänze zu hören.

Das Nachspiel – der Boltenhagener Bücherfrühling

Ehe sie im Januar 2010 starb, war Gisela Kraft noch zweimal zu Gast beim Boltenhagener Bücherfrühling, einmal in einem Anatolisch-deutsch-sorbischen Lyrikabend mit Bennedikt Dyrlich: „Lautklang und Sprachbild aus näherem und fernerem Osten„. Am Morgen danach hatten wir das unvermeidliche Porträtgespräch. Hier ist der Teil davon, in dem Gisela Kraft mit uns über die Brückenschläge sprach zwischen dem deutschen und dem türkischen Ufer, zwischen denen auch sie als Übersetzerin Brücken baute.

Hier veröffentlichen wir eine gekürzte Aufnahme dieses Gesprächs.

In ihren Selbstauskünften sagte uns Gisela Kraft, dass sie ja eigentlich keine Übersetzerin ist, sondern eine Poetin, die sich für andere Sprachen interessiert. Als solche war sie unterwegs zwischen Ufern, worüber wir ausführlich miteinander sprechen konnten. Übrigens waren wir wohl die Ersten, denen sie verriet, dass sie doch noch mal einen Nazim-Hikmet-Band veröffentlichen will, was dann nicht drei sondern fünf Jahre später auch geschah (Nâzim Hikmet: Die Namen der Sehnsucht, Zürich 2008).

Es hat sich seit den 1980er Jahren etwas soziokulturell verändert, was für die Übersetzerin der frühen Jahre in den Konsequenzen nicht ganz schmerzfrei bleiben konnte: Es emanzipierten sich türkisch stämmige Poeten heran, die selbst in die deutsche Sprache hineingewachsen sind und dieser mächtig sind wie andere hierzulande auch. Die Konsequenz in den Worten von Gisela Kraft beim Bücherfrühling 2003: „Ich hab‘ im Grunde die meisten türkischen Autoren zum Feind.“

Hier nun der Extrakt unseres Gesprächs vom 10.04.203. Wir hören so erfrischende Auskünfte wie die, dass die Araber als semitische Volksgruppe ja eigentlich keine Antisemiten sein können, ohne sich selbst zu hassen, dass in der DDR ein im Westen verbotener Gedichtband mit ihren Nazim-Hikmet-Nachdichtungen erschienen war, und manches mehr.

Gisela Kraft beim V. Boltenhagener Bücherfrühling am 10.04.2003 vormittags im Porträtgespräch über ihre Arbeit als Übersetzerin

Audio-Erinnerungen aus dem Bücherfrühlings-Archiv: Gustav Just

Heute Vormittag lief zufällig bei mir MDR Kultur. Ein Kalenderblatt-Beitrag, den ich vergeblich in der Mediathek suche, erinnerte mich an den 100. Geburtstag von Gustav Just.

Wir hatten das Glück, ihn im April 2003 unseren Gast nennen zu dürfen. Hilfreich dabei war wohl, dass Martin Just unser Freund und Unterstützer bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Schwerin war. Der Sohn machte es möglich, dass der gesundheitlich schon angeschlagene Gustav Just zu uns ins Ostseebad Boltenhagen kommen konnte.

Gustav Just am 10.04.2003 in Boltenhagen zur Person

Der Jahrgang 2003 war ein bemerkenswerter Bücherfrühlingsjahrgang. Das Thema lautete: „Übersetzer – die stilleren Helden des Literaturbetriebs„. Gustav Just war einer von diesen Helden.

Ein bewegtes mitteleuropäisches Leben im 20. Jahrhundert kann nur ein Leben voller Brüche sein. Für diese Feststellung steht Gustav Just ((Geboren am 16.06.2021 im böhmischen Reinowitz, gestorben am 23.02.2011 im brandenburgischen Prenden) exemplarisch.

Im Publikum saß der damals 90-jährige Pastor Erich Arndt. Beim Untergang der 6. Wehrmachtsarmee im Kessel von Stalingrad war Arndt der Divisionsseelsorger der 24. Panzerdivision. Diese 6. Armee wurde später in Frankreich neu aufgebaut. Gustav Just wurde dort einer ihrer Offiziere. Arndt und Just, die sich nicht kannten, überlebten das Weltkriegsinferno dank ihrer schweren Verwundungen und fanden beide eine politische Heimat der Wiedergutmachung und humanistischen Hoffnung in der Deutschen Demokratischen Republik. Dass Just dabei seinen Offiziersstatus zunächst verheimlichte, bewahrte ihn sicher vor der Internierung durch die sowjetische Besatzungsmacht, fiel ihm aber viel später doch auf die Füße.

Gustav Just war in den frühen 50er Jahren einer der bedeutendsten Kulturfunktionäre der DDR und hatte unmittelbar zu tun mit Persönlichkeiten vom Range Gret Palucca, Ernst Busch, Hanns Eisler, Walter Felsenstein, Anna Seghers. Johannes R. Becher hatte ihn für das Amt des Direktors der Akademie der Künste ausersehen. Bertold Brecht hätte ihn gern gesehen als Abteilungsleiter Literatur im Kulturministerium; doch er wurde für zwei Jahre Generalsekretär des Schriftstellerverbands. Mit dem Eingeständnis der kleinen biografischen Unwahrheit folgte die Degradierung zum stellvertretenden Chefredakteur der Zeitschrift des Kulturbundes „Sonntag“.

Es kam das unruhige Jahr 1956 mit seinen enttäuschten Hoffnungen auf Befreiung des Sozialismus vom Stalinschen Diktatorengeist. Just gehörte zu einem denkzirkel mit Walter Janka und Wolfgang Harig. Als die Gruppe Ulbricht die Oberhand gewann und zur politisch-juristischen Abrechnung mit den kritischen Geistern ausholte, wurde Just zunächst als zeuge vor Gericht zitiert und noch im Zeugenstand verhaftet und angeklagt.

Hier ergibt sich übrigens eine weitere Schnittmenge zu einem unserer Gast-AutorFriedrich Wolff. Der große Jurist, der 2002 unser Gast war, verteidigte zwei Mitangeklagte von Gustav Just.

Die Zuchthaus-Erfahrungen stellten die Weichen zu jenem neuen Lebensabschnitt, in dem Gustav Just zu einem der bedeutendsten Übersetzer der tschichischen und slowakischen Literatur wurde. Mehr als 120 Bücher kamen zusammen. Hier noch ein Ausschnitt aus unserem Porträtgespräch mit Lesung.

Gustav Just erzählt, warum er den Schwejk nicht neu übersetzte

Wir hatten Gustav Just als Übersetzer eingeladen. Er sprach über ein großes Werk der DDR-Vorlage, allen voran Volk und Welt, an dem er beteiligt war: die Literatur der Völker des Ostens in die deutsche Sprache geholt zu haben. Dazu las er einen Text aus Karel Čapeks Reisebildern aus den 30er Jahren. Es geht um Stockholm.

Gustav Just spricht über das große Übersetzerwerk der DDR-Verlage und liest ein Reisebild von Karel Čapek über Stockholm der 30er Jahre

Mir kam in Boltenhagen eine schöne, aber leider verspätete Idee. Die Texte in der Übersetzung Gustav Justs sollten der Nachwelt erhalten bleiben auch in jenem böhmischen Duktus, der verloren geht mit dem Vergehen der Generation der Vorkriegskinder. Die Berliner Blindenhörbücherei hatte auch schon andere Autoren ihre Bücher für ihre blinden Nutzer selbst einlesen lassen. Wenn auch Gustav Just dies tun würde, wäre das ein Stück von Kulturbewahrung jenseits des Kommerzes, für den solch ein Werk ja uninteressant war.

Der Plan war nicht mehr umsetzbar. Wegen der chronischen Bronchitis des 82-Jährigen wäre dieses Unterfangen eine einzige Quälerei geworden. Wie schön es hätte sein können, soll ein Ausschnitt aus unserem denkwürdigen Nachmittags im April 2003 belegen.

Gustav Just liest nach kurzer Einleitung von Peter Karvaš „Die Auferweckhung des Lazarus“

Weitere Fakten und Informationen enthält ein Dosier zu Gustav Just für die Teilnehmer des V. Boltenhagener Bücherfrühlings.