Vorbetrachtungen aus dem kapitalistischen Nachher des Jahres 2002

Unterpunkte:

 

Wissenschaft oder Propaganda, Erkenntnis oder Ideologie? Das frage ich mich im Abstand von 20 Jahren, die sämtliche Koordinaten veränderten, natürlich auch, und ich bin sehr gespannt auf die Konfrontation mit dem Material.

Warum das alles jetzt?

So viel rückwärts gewandte Mühe steckt in der Aufbereitung einer Dissertation, die schon bei ihrer Fertigstellung nur sehr wenig Staub aufwirbelte, dass der Frage nach dem Waroum/Wofür nicht ausgewichen werden kann. Immerhin musste das damalige maschinengetippte Werk noch einmal abgeschrieben werden. Die anschließende Umwandlung in internetgerechten Hypertext habe ich Absatz für Absatz, Verweis für Verweis, Fußnote für Fußnote, also in vielen kleinen Schritten vorgenommen.

Jetzt haben - theoretisch - Milliarden Menschen Zugriff auf diese Arbeit, die doch kein reines Ruhmesblatt für ihren Autor sein kann, weil sie doch ideologischen Umständen Tribut zollte, die heute nur noch Scham und Hohn erregen können. Zugleich stellt diese Dissertation eine Bemühung um einen Gesellschaftsentwurf dar, der jetzt als gescheitert gilt. Also wer sollte schon zugreifen und sich gar der Mühe unterziehen, diesen sehr umfangreichen Text am Bildschirm zu lesen?

Ich kann es mir selber kaum vorstellen, dass sich so jemand findet. Ein Agrarhistoriker könnte das vielleicht sein, der die sozialistische Umgestaltung der DDR-Landwirtschaft noch einmal aufrollt. Ein solcher Jemand sollte freilich tatsächlich nicht vorbeikommen an dieser Arbeit. Meine konsequente Herangehensweise aus der Sicht des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses blendet zwar die realen politischen Vorgänge sehr weit aus. Dadurch scheint es so, als wäre die Gesamtentwicklung von einer inneren Logik diktiert und ihre politische Umsetzung das einzig Vernünftige. Einsicht in Partei- und Staatsakten blieben mir damals ebenso verschlossen wie die unvoreingenommene Auseinandersetzung mit alternativen Ideen z.B. eines Kurt Vieweg.

Zunächst wird in der Arbeit - hoch theoretisch und in Treue zum Titanen Karl Marx - ein Eigentumsbegriff entwickelt, der es gestattet, den historischen Umwandlungsprozeß der DDR-Landwirtschaft tatsächlich äußerst differenziert und zugleich in sich Schlüssig als Gesamtprozeß darzulegen. Genau auf diese - heute freilich irrelevante - Leistung bin ich unverändert stolz.

Diese Veröffentlichung ist auch eine gewisse Genugtuung, denn diese meine Arbeit geriet schon bei ihrer Fertigstellung ins wissenschaftliche Abseits, weil ins falsche Schubfach. Der Grund dafür lag keinesfalls im Inhalt der Arbeit, wie das bei allzu vielen Soziologen der Fall war, die im Auftrag hoher Gremien Meinungsbilder erforschten, die anschließend in den Panzerschränken der Auftraggeber verschlossen wurden.

In meinem Fall war es viel banaler. Ich war nur ein kleiner Lehrer für Marxismus-Leninismus an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, der eine obligatorische Qualifikationsarbeit vorzulegen hatte im Fachbereich "Wissenschaftlicher Kommunismus/Geschichte der Arbeiterbewegung". Und so wurden auch die Gutachter bestimmt, ältere Genossen, die weder meine Intentionen teilten noch meinen Gedanken folgen konnten oder wollten. So wurde nicht einmal das Thema in der Zeitschrift "Wirtschaftswissenschaften" angezeigt, wie das bei Ökonomen selbstverständlich war.

Als die Entscheidung über die Zuordnung und die Gutachter bekanntgegeben wurde, waren Wut und Enttäuschung bei mir so groß, dass ich in einer Tagebucheintragung, die ich dieser Tage wieder fand, mit der Partei zu brechen drohte, wozu ich letztendlich wohl doch zu bequehm eingerichtet war.

Meine damaligen Intentionen

In den 70er-80er Jahren des 20. Jahrhunderts konnte eigentlich niemand mehr leugnen, dass die Wirtschaft in den sozialistischen Ländern hinter ihrem eigenen Anspruch grundlegender Überlegenheit weit zurück blieb. Die Gründe dafür mögen sich vielfältig erklären lassen. Ein junger Marxist wie ich jedenfalls ließ sich von dem Gedanken elektrisieren, dass der "Stein der Weisen" in so etwas wie einem Grundverhältnis zu suchen sein müsse. Dieses Grundverhältnis ist das, was die Produzenten mit den Voraussetzungen und Ergebnissen der Produktion verbindet. Wie ist dieses Eigentumsverhältnis beschaffen und wie ist es zu gestalten?

Die Werke von Marx, Engels und Lenin waren in großen Auflagen erschienen und dienten als Steinbruch für jeweils opportune Zitate. Stalin hatte die revolutionären Denker als Religionsstifter domestiziert. Mir war es nun darum zu tun, zur kritischen Denkschule Marx zurückzufinden. Auf diesen Weg hatte mich während des Leipziger Studiums mein Lehrer und Diplombetreuer Klaus Rendgen gesetzt.

Und warum Landwirtschaft?
Ihre Entwicklung seit 1945 verstand ich als das spannendste Laboratorium für die Gestaltung von Beziehungen von Menschen vermittelt durch Sachen, also Eigentum. Was ich an analytischem Werkzeug herausarbeiten würde, müsste sich bei der Analyse eines so komplexen Transformationsprozesses bewähren, wie die Vergenossenschaftlichung der Landwirtschaft in der DDR einer ist.

Aufruhr zwischen den Zeilen

Keine Frage, ich fühlte mich jung, wild und zum Verändern der Welt berufen. Aber ich erkannte die bestehenden Verhältnisse als grundsätzlich richtig an und wollte nicht von deren Exponenten verdammt und des Feldes verwiesen werden.

Ergebnis ist die Aufmüpfigkeit zwischen den Zeilen, ist das Taktieren, was zum verhaltenen Aufruhr in Andeutungen führt. Nehmen wir eine Kostprobe aus der Einleitung. Dort schrieb ich 1983:

"Die Entwicklung der genossenschaftlich-sozialistischen Landwirtschaft in der DDR ist ein ständiges, beharrliches Ringen um gesellschaftlichen Fortschritt, ist ein ununterbrochener Prozeß der Lösung und Neusetzung dialektischer Widersprüche. Unser Stolz auf das Erreichte wächst mit dem Bewußtsein der Kompliziertheit der Probleme, in deren Lösung sich die Bürger unseres sozialistischen Staates zu Persönlichkeiten entwickeln." Sprung zur Belegstelle!

Das distanziert sich deutlich von der parteioffiziellen Selbstzufriedenheit: "Vieles ist erreicht, doch manches bleibt noch zu tun!" Statt Verharmlosung und Tabuisierung der Probleme, hier Patriotismus aus deren schonungslosem Offenlegen.

Das entsprach nicht der propagandistischen Grundlinie. Aber es greift sie auch nicht offen an. Ich wollte ja Fürstenaufklärung nicht Verdammnis.

Hier noch ein anderes Beispiel. Darin wird zunächst die pathetische Verklärung der "Partei der Arbeiterklasse" nachgebetet und die Macht dieser "Partei" besungen, doch am Ende ist vom darin enthaltenen Entscheidungsrisiko die Rede, wird also ihr Unfehlbarkeitsanspruch verneint, freilich im Optimismus des Möchtegernbekehrers, als ob unter den Fürsten die Vernunft doch nur richtig zu verkünden wäre, dann würde sie auch das Maß allen Handelns werden.

Die Tatsache, daß der Gruppencharakter des genossenschaftlichen Eigentums in der Landwirtschaft keine Autonomie gegenüber der zentralen Planung und Leitung der Volkswirtschaft bedeutet, enthält die Konsequenz, daß der Partei bei der weiteren Führung der Vergesellschaftungsprozesse, die mit dem Fortschritt der Produktivkräfte und den wachsenden gesellschaftlichen Bedürfnissen objektiv notwendig waren und auch weiterhin notwendig sind, eine große Verantwortung zugewachsen ist. Die Partei der Arbeiterklasse war, ist und bleibt die Kraft, welche, gestützt auf ein großes wissenschaftliches Potential und die Erfahrungen der Massen, das optimale Maß der Vergesellschaftung fixiert, was natürlich auch ein folgenreiches Entscheidungsrisiko einschließt. Zur entsprechenden Textpassage!

Dass die wissenschaftliche Substanz auch völlig frei von ideologischen Leerformeln auskommen kann, zeigt sich zum Beispiel und spätestens hier: Zur weiteren Entwicklung von Teilung und Kombination der Arbeit und Vervollkommnung der Aneignungsbeziehungen innerhalb der LPG der Sechziger Jahre

Mein unterwürfiges Taktieren

Kautsky war in unserer reinen Lehre stigmatisiert durch die Abrechnung Lenins mit dem Auftreten des deutschen Sozialisten nach der Novemberrevolution, vor allem in Lenins Werk "Die Revolution und der Renegat Kautsky". Aber mir war Karl Kautskys "Agrarfrage" in die Hände gefallen und hatte mich begeistert. Ich zitierte daraus, nicht aber ohne Verweis auf eine Stelle bei Lenin, wo dieserKautskys Standardwerk "nach dem dritten Band des ´Kapitals` die hervorragendste Erscheinung der neueren ökonomischen Literatur" nannte. Belegstelle in meiner Dissertation!

Ein anderes Beispiel. Alle Praktiker sind sich heute einig, dass die Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion durch Bildung der Kooperativen Abteilungen Pflanzenproduktion Ende der 60er Jahre den genossenschaftlichen Charakter der Landwirtschaft schädlich unterlief. Das war vielen auch um 1980 klar, nur wagte das keiner laut zu sagen, um sich nicht den Zorn des mächtigen Gerhard Grüneberg zuzuziehen.

Auch bei mir heißt es: "In schöpferischer Weiterentwicklung der Agrarpolitik der SED erwiesen sich die kooperativen Abteilungen Pflanzenproduktion als die angemessene Form, in der eine großräumige, komplexe Mechanisierung der Feldwirtschaft durchführbar war."

Wer die ganze Passage liest, wird zu meiner Ehrenrettung immerhin finden, dass ich den objektiven Entwicklungswiderspruch analysiert habe, der sich auftat: "Vergesellschaftungsgrad der Arbeit und der Aneignung entsprachen einander nicht mehr."

Ich leugne nicht die Probleme, wohl aber die Verantwortung für diese, wenn ich zu diesem Ende komme: "Dieser ganze Prozeß stellt somit eine große Bewährungsprobe für die genossenschaftliche Demokratie dar, die nicht überall in gleichem Maße bewältigt werden konnte, was sich unter den gegebenen, nicht nur ökonomisch, sondern auch ideologisch stark differenzierten Bedingungen ganz von selbst versteht."

Das ist die Feigheit, die sich hinter scheinbarer Schonungslosigkeit in der wissenschaftlichen Analyse versteckt. Das gab es schon vor uns, gibt es noch und wird es wohl immer geben. Arm dran sind die, die es nicht bemerken, weil der Charakter ihres Opportunismus' kein politischer ist oder zu sein scheint.

Richtig falsch und apologetisch endet mein dialektischer Tanz, wenn ich folgere: "Die Bildung von LPG Pflanzenproduktion ist die Wiederherstellung der Kongruenz von Produktionsorganisation und Eigentumsverhältnis auf höherer Stufe." Ausführlich!

Heute einfach klüger sein!

Klar ist mir das peinlich, wenn ich heute diese Lehrformeln in einer Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch wiederlese, die mir schon damals als Leerformeln durchschaubar waren: "Führende Rolle der Arbeiterklasse"; "sozialistische Revolution"; "antifaschistisch-demokratische Umwälzung". Auch sagte es sich leicht dahin: "die kapitalistischen Elemente innerhalb der Bauernschaft zu eliminieren." Belegstelle im Kontext!

Auch wenn das Eliminieren hier sozial und nicht physisch gemeint war, es toleriert administrative Gewalt. Ich bin auch heute noch davon überzeugt, dass radikale sozialökonomische Brüche niemals ohne Gewalt auskommen. Aber ich weiß heute, dass sich "die gute Sache" an ihrer Repressionsbereitschaft selbst vergiftet. Damals hatte ich meine Christa Wolff, meine "Kassandra" noch nicht gelesen, geschweige denn verstanden. Und seit ich das eingesogen habe, bin ich politikunfähig.

Ich meinte damals, der ideologische Ballast könne der wissenschaftlichen Substanz nichts anhaben. Und ich hoffe noch immer, dass er verzeihbar ist.

Aber solches Gewäsch beschädigt eben die Substanz:

"Mit maßgeblicher ökonomischer, politischer und ideologischer Unterstützung seitens der Arbeiterklasse, mußte bei der Vereinigung der werktätigen Bauern auf der Basis der Vergesellschaftung der Arbeit und ihrer Voraussetzungen ein Eigentumsverhältnis entstehen, das die Identität von Produzent und Eigentümer auf einer dem Vergesellschaftungsgrad der Arbeit entsprechenden Stufe vermittelt. Deshalb kann das genossenschaftliche Eigentumsverhältnis nur so weit als durchgesetzt angesehen werden, wie die genossenschaftliche Arbeit entwickelt ist." Da stehts!

Wo ich mich einfach nur schäme

Klar, das Privateigentum war als Quelle sozialen Übels ausgemacht, wie das gesellschaftliche die Heilung von alledem versprach. Aber die wissenschaftlich-ideologische Legitimierung für unsere Machtorgane bedeutete praktisch, Leuten Macht über Menschen einzuräumen, über die sie nicht wirklich Rechenschaft ablegen mussten. Hier die Textstelle, die ich am liebsten tilgen würde:

"Und die Erfahrungen aus der Geschichte unserer LPG besagen eben auch - und mit durchaus aktueller Relevanz - daß sich individuelle Nebengewerbe immer dort in Spekulation, Aneignung fremder Mehrarbeit und Sozialismus fremden Verhaltensweisen entfalten, wo sie der gesellschaftlichen Kontrolle und Beschränkung entgleiten, wo sozialistische Eigentums- und Machtverhältnisse noch schwach sind bzw. eine Schwächung erleiden, wo sich die Subsumtionsbeziehung umkehrt und das Privateigentum sich mehr oder weniger stark dem gesellschaftlichen Eigentum unterwirft..."

Die Geschichte kann und wird sich nicht wiederholen. Wer historische Fehler gemacht hat, bekommt selten bis nie Gelegenheit, sie zu tilgen. Bitter ist nur, dass im Falschen doch vieles richtig gemacht worden ist.

Die genossenschaftlich organisierte Produktion hat sich trotz unangemessener Rahmenbedingungen und voluntaristischen Überdrehtheiten einer Agrarpolitik a la Grüneberg als so stark erwiesen, dass selbst nach dem Untergang der DDR sich die Nachfolgebetriebe der LPG trotz massivster Bestrebungen zu ihrer Zerschlagung als sozialökonomisches Rückgrat ländlicher Territorien behauptet haben und in interessierten Teilen der Bauernlobby des agrarischen Europas als marktwirtschaftliche Bedrohung begriffen und bekämpft werden.

Es wäre nicht ohne Reiz, die Geschichte weiter zu schreiben. Welchen Charakter haben die Nachfolgebetriebe der LPG und welche Perspektive? Davon bin jedenfalls ich gedanklich und beruflich weit entfernt. Mögen andere, die solches tun, sich doch wenigstens mit meinem analytischen Ansatz von Arbeit und Eigentum auseinandergesetzt haben! Möglich ist es ja jetzt. Aber unabhängig von der wissenschaftlichen Sicht ist doch eines evident: ein Zurück zur privatbäuerlichen, in Wirklichkeit ein Vorwärts zur agarindustriell-kapitalistischen Produktion hatte und hat eine machbare Alternative.

 

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Erstellt am 18.06.2002Zuletzt geändert am 01.02.2009