© Berliner Zeitung; vom 13.11.1999 / S. M9

 

Im Nachforschungslabyrinth
Auch Josê Saramago mag es vielsagend.
Über Schachtelsätze und mehrdeutige Bilder in seinem neuen Roman "Alle Namen"

Seinen neuen Roman hat José Saramago in ein bharres Aktenlager platziert. Das "Zentrale Personenstandsregister" verzeichnet in zwei Abteilungen die Namen sämtlicher Menschen. Es gibt ein "Archiv der Lebenden", das übersichtlich gebaut und gut aufgeräumt ist. Das "Archiv der Toten" besteht hingegen aus einem weitläufigen Regallabyrinth. Obwohl ständig neue Anbauten errichtet werden, ist die Raumnot darin bedrängend. Schuld ist das stetige Sterben in der Welt. Eine Kolonne von Archivbeamten ist mit der Verwaltung betraut; nach einem starren Dienstplan müssen sie die Datenblätter der frisch verstorbenen aus dem einen Archiv in das andere bringen.

"Alle Namen" ist ein Experiment zur Versöhnung verschiedener literarischer Befindlichkeiten. Insbesondere hat sich Saramago bemüht, zugleich melancholisch und kritisch zu sein. Darum darfsein vanitas-gerecht verwittertes Archiv - es bröckelt der Putz von den Wänden, der Anstrich der Türen vergilbt -nicht nur als Sinnbild der sinnlosen Wiederkehr von Leben und Sterben erscheinen. Es wird auch wortreich als Schauplatz einer unerhört entfremdeten Arbeitswelt ausgemalt. Seit "unvordenklichen Zeiten", so ist zu erfahren, werden in diesem Schicksaishaus Menschen zu bloßen Beamten verformt. Anders als von anderen Nobelpreisträgern, waren von Saramago bisher keine gänzlich misslungenen Bücher bekannt. Doch ist seine Doppelmetapher vom absurden "Personenstandsregister" imaginativ derart schwach ausgefallen, dass man sich schon während der Exposition um die Schaffenskraft des betagten Autors zu sorgen beginnt. Leider wird auch die anfängliche Hoffnung, dass sich an diesem Ort zumindest eine interessante Geschichte ab- -spielen könnte, im Verlauf des Buches enttäuscht. Es folgt bloß ein einfacher Entwicklungsroman: wie der Archivbeamte Senhor Josê einmal das Schicksal überlistet und dabei sich selber gefunden hat.

Jahrzehntelang ist der ansonsten anonyme Held der Geschichte als Bote beschäftigt gewesen; er hat Karteiblätter aus dem "Archiv der Lebenden" in das "Archiv der Toten" gebracht. In der bewusstlosen Pedanterie, mit der er die streng vorgeplanten Arbeitsabläufe vollzieht, ist Senhor Josê immer ein idealer Beamter gewesen - bis er sich eines Tages in das Datenprofil einer Frau verliebt.

Der Zufall hat ihm ihr irrgelaufenes Karteiblatt in die Hand gespielt. Mit einer Entschlossenheit, die ihm selbst ebenso rätselhaft bleibt wie dem Leser, beginnt er, nach der Unbekannten zu suchen. Zwar vermutet man von vornherein zutreffend, dass Senhor Josês Wunsch nach einer Begegnung unerfüllt bleibt. Dennoch wird die Suche für ihn zu einem interessanten Erlebnis. Denn je entschlossener er seine Nachforschungen betreibt, desto nachhaltiger muss er jene Regeln verletzen, die ihm bis dahin den wesentlichen Halt im Leben gegeben haben. Er streift nachts unbefugt durch das Archiv, gibt sich vor den Nachbarn der gesuchten Frau als sein eigener Chef aus und fälscht am Ende sogar eine Akten- und Nachfragevollmacht. Doch überwindet der verliebte Beamte nicht nur spielend die innerbetrieblichen Hierarchien. In der Folge erscheinen ihm auch andere Arten der Ordnung, die er einst für weltbeherrschend hielt, als hinfällige Kaschierungen für das Chaos. Eine Grippe bietet ihm Anlass, über die mangelnde Einheit von Körper und Geist nachzudenken. Beim Versuch, seine Erlebnisse in Worte zu fassen, entdeckt er, dass auch in der Sprache alle Eindeutigkeiten nur eitel vorgetäuscht sind. Gern würde man sich auch als Leser an diesem Zuwachs von Realitätssinn und Selbstbewusstsein erfreuen. Doch je aufgeweckter Sr. José seine neuen Einsichten durchdenkt, desto weniger gelingt Saramago deren literarische Gestaltung. Die wenig originellen, aber einstweilen immerhin vielsagenden Bilder, mit denen die absurde Welt der unbedingten Ordnung gezeichnet wurde, müssen sich in den Reflexionen von Senhor Josê nachträglich noch einmal grell anstrahlen lassen; das Halbdunkel, in dem sie sich zuvor befanden, hatte ihnen besser geschmeichelt. Zugleich tritt eine grundlegende Unentschiedenheit Saramagos nun unverschleiert zu Tage: Darf man den Lesern ästhetisch mehrdeutige Bilder zumuten, mithin auf ihre eigenen Einsichten vertrauen? Oder sollte man sie - wozu der Autor traditionell eher neigt - nicht sicherheitshalber doch mit ein paar ausdrücklich formulierten Botschaften versorgen?

Besonders ungünstig wirkt sich dieser ungelöste Zwiespalt des Autors auf seinen Gebrauch der literarischen Sprache aus. Deren Duktus ist durch Schachtelkonstruktionen bestimmt, die bis nah an die Grenze des Lesbaren reichen; die Binnenspannung der Sätze wird solange bis zum Zerreißen beansprucht, bis sie sich in ein paar einfachen, gleichwohl ohne Punkt oder Absatz aneinander gefügten Parataxen entlädt. Es spricht für Saramagos Routine, dass er aus der monotonen Kompliziertheit dieses Stils dennoch interessante Effekte schlägt. Was zuerst bloß wie ein absatzfreies Fließen erscheint, ist rhythmisch bewusst durchgestaltet; je nach Bedeutung des geschilderten Geschehens, wird die Erzählzeit mit großer Genauigkeit gerafft oder gedehnt. So anerkennenswert diese Stilübungen auch unter handwerklichen Aspekten sein mögen; besonderen Künstgenuss bescheren sie nicht. Die Mühsal, die Saramagos komplizierte Grammatik beim Lesen bereitet, wird kaum durch interessante Erkenntnisse entlohnt. welcher Absicht sie dient, wird im Verlauf des Buchs sogar immer unklarer. Erst wirkt sie wie eine geplante Mimesis an den Bewusstseinszustand des Protagonisten; als wäre ihm die Reguliertheit, die seinen Beruf prägt, längst auch zur einzigen Weise der Selbst- und Weltbeschreibung geworden. Doch wäre Saramago an dieser Analogie tatsächlich gelegen gewesen - er hätte die wachsende Emanzipation von Senhor Josê auch durch eine allmähliche Anverwandlung der Sprache begleiten müssen. Deren künstliche Kompliziertheit bleibt aber im Verlauf des Geschehens nicht nur sonderbar unangetastet. Sie darf sich sogar immer weiter gegen die Ich-Perspektive verselbstständigen. Ein allwissender Erzähler überwacht die gelingende Selbstfindung, indem er Senhor Josê in überprüfende Dialoge verwickelt. So verschärft sich im Verlauf des Buchs noch dessen Asymmetrie zwischen Botschaft und Stil: zwfschen der melancholischen Einsicht des Helden in die Scheinhaftigkeit aller Ordnungen - und dem Bemühen Saramagos, sich zurVermittlung dieser Idee einer allumfassenden, unbedingt gültigen Erzählperspektive zu bemächtigen. Saramagos unbestreitbares Können als Autor wirkt so einigermaßen desorientiert.Im Labyrinth der literarischen Stile hat es ihm für dieses Mal am nötigen Überblick gefehlt.

 

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Erstellt am 20.04.2002Zuletzt geändert am 21.04.2002 22:57