© Stefanie Gerhold in Berliner Morgenpost; vom 13.10.1999 / S. LB6

 

Auf der Suche nach dem Leben -
Der portugiesische Nobelpreisträger Jose Saramago hat einen atmosphärisch aufgeladenen Roman über die Einsamkeit geschrieben

Senhor Josê ist ein Pedant, was bei einem langjährigen Amtsschreiber im Zentralen Personenstandsregister wohl zwangsläufig so ist. Und Senhor losê ist einsam. Er kennt nicht die Menschen selbst, er kennt nur ihre Akten aus dem Personenstandsregister, in denen Name, Geburtsdatum, Heirat, Scheidung und Tod verzeichnet sind. Da verwundert das Hobby des schrulligen Beamten kaum: Er sammelt Zeitungsausschnitte und sonstiges Informationsmaterial über berühmte Zeitgenossen, und die endlosen Schnipsel und Bilder fügt er zu persönlichen Akten zusammen.

Nichts beunruhigt Senhor Josê mehr als der Zufall, das Unkontrollierbare, das er als permanente Bedrohung empfindet. Und dieser Zufall spielt Senhor Jose eines schönen Tages die Akte einer völlig unbekannten Frau in die Hände, die sich unter den Stapel seiner persönlichen VIP-Sammlung gemogelt hat. Zutiefst verstört, kann Senhor Josê sich mit der Banalität dieses Versehens nicht abfinden, (...) die unbekannte Frau geht ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Der bis dahin eher behäbig wirkende Beamte ist auf einmal wie ausgewechselt und stürzt sich in fieberhafte Nachforschungen. Als Erstes sucht er die auf der Akte angegebene Geburtsadresse auf. So kommt er mit einer alten Nachbarin der Unbekannten ins Gespräch, die ihm allerdings nur spärliche Hinweise auf den Lebensweg der mysteriösen Frau geben kann. Von seinem Wahn gepackt, beschließt er darauf hin, in ihre ehemalige Schule einzusteigen. Aber auch diese Nacht-und- Nebel-Aktion, die natürlich minutiös bis in die letzte Eventualität geplant wird, bringt kaum neue Erkenntnisse. In den verlassen daliegenden Klassenzimmern aber, in denen noch der staubige Geruch der Kreide hängt, schnuppert Senhor Josê der Vergangenheit der Schülerin von einst nach. Solche atmosphärischen Eindrücke führen allmählich eine Wandlung bei Senhor Josê herbei: War sein Leben bislang damit erfüllt, alle möglichen Daten über Menschen zusammenzutragen, sucht er jetzt, auch wenn er sich das niemals eingestehen würde, den Menschen selbst.

Wie oft in Josê Saramagos Büchern - so auch in seiner zuletzt erschienenen "Geschichte von der einsamen Insel" - geht es auch in "Alle Namen" nicht um das Ziel, sondern um den Weg. Im Zentrum steht die Suche, und diese wiederum steht für eine Art geistigen und seelischen Aufbruch, bei dem so manch verhmstetes Lebenskonzept über Bord geht. Der akribische Amtsschreiber in Saramagos neuem Roman lernt, dass er sich nicht länger an seiner Ordnungswut festkrallen kann: Er begreift; dass Jedes Menschenleben einzigartig ist.

Diese Parabel führt Saramago noch weiter aus. Denn nicht nur die Faktengläubigkeit Sr. Joses bröckelt unaufhaltsam, auch im Personenstandsregister führt ungezügelter Ordnungswille zum Chaos: Da die Akten der Toten zwangsläufig immer mehr werden, wird es für die Akten der Lebenden allmählich eng. So passiert es, dass immer wieder turmhohe Aktenstapel zu Boden krachen, was zur Folge hat, dass die Papiere der Verstorbenen die Behörde überfluten. Auf diese Weise verwandeln sie die Gänge des Zentralen Personenstandsregisters in ein undurchdringliches Labyrinth. Apokalyptische Visionen wie diese malt sich Saramago gerne aus, zuletzt in seinem Roman "Die Stadt der Blinden", wo eine grauenhafte Epidemie die Menschen reihenweise erblinden lässt.

In "Alle Namen" steht der alles überwuchernde Tod im widerstreit zu Sr. Joses zaghafter Suche nach dem Leben. In dieser Spannung, die zwischen der Vorstellung eines übermächtigen Todes und der Lebenssehnsucht des Individuums entsteht, liegt womöglich der Schlüssel für die eigentümlich archaische Kraft, die dieser Roman ausstrahlt. Denn obwohl Saramagos grelle Symbolsprache surreal und befremdlich erscheint, gelingt es ihm, den Leser mit der spannungsgeladenen Atmosphäre zu infizieren. Das dürfte vor allem ein Verdienst seiner Sprache sein, in der sich die umständliche, akkurate Ausdrucksweise des Amtsschreibers mit den phantastischen Bildern des Visionärs zu einem Ganzen fügt, dessen beschwörender Rhythmus den Leser in seinen Bann zieht.

 

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Erstellt am 20.04.2002Zuletzt geändert am 21.04.2002 22:56