Literarisch-musikalische Symbiosen
Ästhetik für ein Stück Hörfunk

Mein Urerlebnis

Aufgewachsen bin ich im Sendegebiet des Bayerischen Rundfunks. Heute scheint es unglaublich, dass der Sender Oxenkopf bis nach Zittau strahlte. Dem Jugendfunk des BR jedenfalls war Anfang der 70er Jahre mit "Pop Sunday" ein kaum bemerkter großer Wurf gelungen. Bei entsprechender Wertschätzung hätte das, was damals an Sonntagen nach 23:00 Uhr über die Frequenzen des neuen Programms Bayern 3 ging, eine Wegmarke modernen deutschen Radios werden können

Mich jedenfals faszinierten diese Sendungen und gern hätte ich erlebt, dass daraus mehr wird. Doch auch beim BR verflachte das Begonnene bis zur Unerkenntlichkeit und schließlich seinem lautlosen Verschwinden.

Was war "Pop SundaY?

"Pop Sunday" dauerte jeweils eine Stunde. Um eine literarische Vorlage herum wurde Musik so drapiert, dass sie den Gedanken des Zuhörers Räume gab, wobei eine platte Illustration der Textaussagen unbedingt vermieden wurde.

Die Textvorlagen reichten von einer Zusammenstellung tschechischer Lyrik aus den Monaten der Niederschlagung des "Prager Frühlings" über das "Dänische Kommune-Buch" und Reiseberichten aush Chile bis zum Roman "Jagdszenen aus Niederbayern". Die Musik war sehr breit gefächert und lässt sich mit Rock und Rock-Jazz allgemein bezeichnen. In einem Umzugskarton schlummern bei mir noch Bänder, die außerordentlich unzulänglich sind. Aber ich werde sie herauskramen, um das hier Gesagte, dokumentarisch zu belegen. Ich habe nämlich in Erfahrung gebracht, dass "Pop Sunday" beim BR nicht archiviert wurde. Wohl gibt es noch gehütete Bänder im Schallarchiv; aber es handelt sich dabei wohl nicht um solche aus der klassischen Zeit.

Die möglichen Sendeflächen

Am Tage ist Radio zu einem Nebenbei-Medium herabgesunken. Am Abend geschieht - breiter als am Tage von den Kulturprogrammen bedient - die Abfütterung der Minderheiten. Aber was ist mit der Nacht?

Die Nacht ist die schönste Zeit fürs Radio. Menschen, die keinen Schlaf finden können oder dürfen, kriegen lange Ohren. ...outside in the cold distance... ist die Luft voller Signale. Die kommen von anderen Nachtmenschen. Was könnte man nicht alles bieten in dieser Zeit! Die Furcht vor den kleinen Hörerzahlen ist unbegründet. Die Quantität der Hörer ist nachts wohl am kleinsten. Aber zu keiner Zeit des Tages wird besser zugehört, tiefer verarbeitet. Die Nacht ist die dankbarste Zeit für das Radio.

Und die Synthesestücke aus Konservenmusik und gelesenen Texten, diese Textur aus Lesung und Musikprogramm ist produktionstechnisch relativ unaufwendig und also kostengünstig.

Eigene Versuche

Klar, zum Radio wollte ich schon immer. Einem blinden Jungen in der DDR gelang das nur, wenn er die Stärken eines Reinhard Walter oder eines Lutz Bertram in die Waagschale werfen konnte. Ich landete jedenfalls zunächst woanders. Auch wenn ich mittlerweile beim Radio bin (vgl. meine klingende Radiobilanz und den Text über meinen Job), konnte ich meine Pop-Sunday-Ideen nirgends auch nur ernsthaft einbringen. Aber das ist noch nicht die ganze Bilanz.

Schon 1972 begann ich mit eigenen Versuchen. Als erste Textvorlage diente ein Heftchen aus dem Verlag Philipp Reclam jun. in Leipzig, enthaltend "Altchinesische Fabeln". An diesem Projekt war mein Freund Falk Schulze beteiligt. Es folgten zwei weitere Studien, die jetzt kaum noch erwähnenswert sind.

Als ich nach dem Leipziger Studium an der Uni Greifswald landete und dort im Studentenclub "Kiste" aktiv wurde, kam der Gedanke auf, "Konzerte für Kassettenrekorder und Sprecher" zu kreieren und dazu irgendetwas visuelles zu finden, dass die unruhig umherfliegenden Augen ruhig stellt.

Da fiel mir "Der kleine Prinz" von Antoine de St.-Exupery in die Hände. Es kommt ja bei "Pop SundaY" immer darauf an, eine Textauswahl zu treffen, die in sich stimmig ist, aber vom Umfang ins shcmale Zeitfenster passt. Also wählte ich aus. Mir kam es so vor, also ob das Buch eigentlich aus Zweien besteht. Ich ließ die Rahmengeschichte vom Bruchpiloten in der Wüste komplett weg, der da mit einem seltsamen kleinen Wesen über Kindlichkeit und Erwachsene philosophiert. Ich schälte die tragische Liebesgeschichte, die Reise des kleinen Prinzen heraus. Hier ist der Anfang der Rose.

Freund Waldo, der Alte von der Kiste, drängte mich, das Werk schnellstens zur Aufführung zu bringen. Den visuellen Tranquilizer hatte ich noch nicht gefunden. Waldo meinte, der wäre auch gar nicht nötig. Als dann die Premiere stieg, rechnete ich mit den üblichen 10-20 Besuchern, die zu Wort-thematischen Veranstaltungen zu kommen pflegten. Oh Schreck, es waren 10-mal so viele gekommen!

Die verwendete Musik hatte ich mir aus dem Radio zusammengeklaubt. Jugendradio DT64 versorgte uns sehr umfassend mit dem, was unsere Plattenläden nicht bieten konnten. Mehr als 15 Musikstücke waren einzuspielen und sie befanden sich auf ebenso vielen Kassetten. Diese musste ich nun in zwei Kassettendecks starten, wechseln, justieren. Mit den gleichen Händen hatte ich den Text zu lesen. Bestimmt wirkte das Ganze ziemlich fahrig. Später schnitt ich die Musiken ja auch zusammen. Noch später brannte ich sie auf CDs. Da war die Mauer auch schon gefallen, und vieles, was ich verwendete war auf CDs zugänglich geworden. Die alten Kassetten hatten ausgedient.

"Die Reise des kleinen Prinzen" habe ich insgesamt mindestens 25 Mal live aufgeführt. Die Musikauswahl hat sich im Laufe der Jahre verändert, ich würde sagen optimiert: Hier die Liste der Abschnitte und der verwendeten Musik!

Das zweite nennenswerte Projekt heißt "Sanduhrmeditationen" und basiert auf dem "Sanduhrbuch" von Ernst Jünger. Mich faszinierte am 1953 veröffentlichten Text die pregnant formulierte Zeitphilosophie. Als linker, gar marxistisch-leninistischer Gesellschaftswissenschaftler hätte ich mir das wohl verbieten müssen. Aber ich fand zu meiner Textauswahl faszinierende Musik. Verblüffend war, das die adäquate Musik zu den Jünger-Texten zur Zeit ihrer Niederschrift noch gar nicht existierte.

Die "Sanduhrmeditationen" kamen weit seltener zur Aufführung als "die Reise des kleinen Prinzen". Aber Mhereres ist doch bemerkenswert an dem Vorgang.
1. Ich fand eine visuelle Ebene: In einem verdunkelten Raum gibt es eine Leinwand. Eine Sanduhr wird von einem Scheinwerfer so angestrahlt, dass das Verrieseln der Zeit auf ihr sichtbar wird. Ironie der Geschichte: Die Sanduhr wurde mir angefertigt in den Werkstätten der Akademie der Künste der DDR.
2. Die Ernst-Jünger-Veranstaltungen in Greifswald, Neubrandenburg und schließlich Berlin wurden in der DDR der Jahre 1988-89 sogar öffentlich plakatiert, also per Sichtwerbung bekannt gemacht.

Dem Gesagten ist nachzutragen, dass die alten Projekte in Kiel wieder aufgelebt sind. Mit meiner "Reise des kleinen Prinzen" starteten wir am 14. März 2003 im KulturForum in der Kieler Stadtgalerie die Reihe Kieler Ohrenweide. Das war erstmals eine Aufführung im komplett verdunkelten Raum, in welchem die mehr als 150 Besucher von Blinden platziert wurden. Es folgten zwei Aufführungen in der Dunkelbühne der unsicht-Bar Berlin am 28. und 29.12.2003. Am f29.2.2004 gibt es eine Aufführung in der Reihe "Pfiff" in der Flensburger Phänomenta.

Auch die "Sanduhrmeditationen" kommen zur neuerlichen Aufführung. Sie sind der Beitrag der Kieler Ohrenweide zum Kieler Kultur-Rausch 2004.

Fazit

Es war eine gute Erfahrung, die alten Projekte noch einmal zu reanimieren, denn sie sind noch immer stimmig. Aber es wird keine Fortentwicklung mehr geben. Meine Koordinaten haben sich verschoben. Eine breitspurige musikalische Nahrungsaufnahme findet so nicht mehr statt in meinem Leben. Ich habe aufgehört, auf dem Laufenden zu sein. Auch lese ich heute anders. Es ist mir schon lange nicht mehr geschehn, dass ein Text mich anherrschte, ihn symbiotisch zu verarbeiten.

Fortsetzung qfolgt?


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Erstellt am 13-05-2001Zuletzt geändert am 20.02.2005