Blind, wie Sehende
Dieser Text entstand im umbrüchigen Jahr 1991 und wird hier unverändert wiedergegeben!
"Bist Du blind", fragt er mürrisch und entschuldigt sich, als er bemerkt: Ich bin es im Wortsinn.
Nur so eine Redensart ist das. Sie meint selten, was sie sagt. Sehende verweisen sich auf die Lücken ihrer Wahrnehmungen. Ich zucke zusammen bei der Rede, die mich nicht meint, aber trifft.
Es ist bekannt, daß der größte Teil menschlicher Wahrnehmungen über die Augen läuft. Viele verlassen sich dabei blind auf das, was sie sehen. Andere sind mehr oder weniger angesteckt von der Skepsis des Philosophen: "Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt." (Hegel). Meine Großmutter sprach in einfacheren Worten: der Schein trügt.
Das wissen auch die Informatiker. Unter ihnen hat sich schon herumgesprochen: Ein großer Teil der Informationsflut, die uns die Füße vom Boden reißt, "ist eine Flut von Quatsch" (Weizenbaum).
Nicht erst das Fernsehen, nein, auch das Nahsehen gehört zu den Fernsinnen - neben dem Hören und Riechen, die ein Schattendasein fristen.
Der Sehsinn, der Gesichtssinn, wie er gehoben heißt, liefert Bilder, die schon verrechnet sind, wenn sie zu Bewußtsein kommen. Nicht alle natürlichen Bilder sind so wenig durch andere Sinne prüfbar, wie der augenscheinliche Lauf der Sterne um die Erde. Was wir von Bildern halten, ist auf Erfahrung gegründet. Die Urerfahrungen und grundlegendsten Vergewisserungen liefern die Nahsinne. Sie sind in der abendländischen Kultur verkümmert: das Schmecken des Daseins, wo wir uns nähren; fühlen der Welt mit dem Körper.
Im Zentrum stehen wir. Wir sind unser eigener Blindfleck.
Kassandra verdankt ihre Gabe ihrer Fremdheit. "daß sie imstande war, sich so weit außerhalb des eigenen Volks zu stellen, daß sie sein unheimliches Schicksal 'sahh'; der in den Kampf bedingungslos Verstrickte sieht ja nichts." (Ch. Wolf).
Wir helfen uns mit Spiegeln. Wir sind umstellt von Spiegeln.
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