Vom Geflecht der Wurzeln

Einer kam aus Okemah (Oklahoma), wo er 1912 als Woodrow Wilson Guthrie geboren wurde. Einer hieß eigentlich Huddie Ledbetter und verbüßte längere Zuchthausstrafen wegen Totschlags (1918-1925) und Mordversuchs (1930-1934). Ein Dritter wurde am 3. Mai 1919 in New York als Peter R. Seeger geboren und absolvierte gut bürgerlich 1936-38 die Harvard University - übrigens zusammen mit John F. Kennedy.

Woody Guthrie und Leadbelly zogen unstet im Lande umher. Hierher gehört auch Lee Hays, und zusammen gründeten sie 1941 die Almanac Singers. Und es wären noch mehr zu nennen, so der Stammvater der britischen Folkszene Ewan MacColl. Für alle diese war ein Mann von initialer Bedeutung, der Lieder sammelte und im Auftrag der Library of Congress verewigte: Alan Lomax. Pete Seeger arbeitete bei ihm 1939-1940 als Assistent. Lomax hat die 1000 Lieder des Woody Guthrie archiviert, und er hatte - fasziniert durch den unverfälscht archaischen Blues des "schweren Jungen" die Kaution für Leadbelly aufgebracht und erste Schallplattenaufnahmen ermöglicht.

Im schmelztigel der Nationen, in den Weiten Nordamerikas landeten die Geschichten und Lieder der Freiheitsucher aus vieler Herren Länder. Und diese Lieder und Geschichten wanderten umher, vermischten und verwandelten sich. Ungarn, Polen, Juden, Iren, Italiener - auch Deutsche - sie gingen neue, weite Wege, vermählten sich mit indianischen und afrikanischen Überlieferungen und kehrten irgendwann ganz anders dorthin zurück, woher sie kamen. Im Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten entwickelte sich nicht nur eine Kulturindustrie, die übermächtig die Welt beglückt auf ihre Weise; nein, selbst diese Kulturindustrie saugt aus dem fruchtbaren Boden der vereinigten Volkskulturen.

Für die afroamerikanischen Wurzeln der Liederbewegung, wie sie sich spätestens in den 60er Jahren entfaltete, steht ein Titan namens Paul Robeson, der als Sohn eines einstigen Sklaven am 9.4.1898 in Princeton zur Welt kam. Paul Robeson, der schon äußerlich eine herausragende Erscheinung war, brachte es zu einiger Berühmtheit als Baseballspieler, hatte die Rechtswissenschaften an der Columbia University studiert, war ein begnadeter Schauspieler und schon seit 1925 als Sänger mit eigenem Orchester unterwegs. Er hatte - sagen seine Bewunderer - das Zeug zu einem President of the United States. Nur zwei Fareben seines Wesens machten das unmöglich: das Schwarz seiner haut und das Rot seiner Gesinnung. Im Jahre 1934 kam er zum erstenmal nach Sowjetrußland, wo er sich der sozialistischen Gedankenwelt näherte. Zweimal noch weilte er in den 30er Jahren in der UdSSR. Eines Tages stand er auch im umkämpften Madrid und sang in der Feuerlinie des spanischen Bürgerkrieges für die Republikaner. Im kalten Krieg stellte sich Robeson eindeutig auf die Seite der Sowjetunion und der Volksdemokratien und warnte vor einer Faschisierung der westlichen Allianz. Das polarisierte so sehr, daß es bei einem New Yorker Auftritt im September 1949 zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Robesons Anhängern und aufgebrachten ehemaligen Kriegsteilnehmern kam. Seit 1950 war Robeson wegen seiner politischen Haltung die Ausreise aus den USA verboten worden. Das State Department wollte ihm damals einen Pass nur unter der Bedingung ausstellen, dass er schriftlich erklärte, kein Mitglied der KP zu sein. Robeson, der sich geweigert hatte, das Dokument zu unterzeichnen, versuchte jahrelang, auf gerichtlichem Wege einen Pass zu erzwingen. Im April 1958 teilte das State Department schließlich mit, dass er in alle Länder der westlichen Welt reisen dürfe, in denen keine Passkontrolle besteht. Vorausgegangen war eine Entscheidung des Obersten Gerichts der Vereinigten Staaten, das den Passentzug als verfassungswidrig erklärte und damit zugleich das Ende der McCarthy-ära bezeichnete. Berühmt für seine Darstellung des Otelo, unvergeßlich in seiner Interpretation des "Old Man River", starb der Stalinpreisträger des Jahres 1952, der auch mehrmals die DDR besuchte am 23. Januar 1976 in Philadelphia.

Auf die "schwarze Liste" der McCarthy-Hysterie der "Ausschüsse zur Untersuchung unamerikanischen Verhaltens" kam auch Pete Seeger. Das hatte 17 Jahre Verbot offizieller Auftritte in Rundfunk und Fernsehen zur Folge.

Einer der in dieser Zeit im benachbarten Kanada Auftritte für den in seiner Heimat verfemten Pete Seeger organisierte war Perry Friedman. Durch ihn kam die Hootenanny-Idee in die DDR.

Popularisiert hat die Lieder Pete Seegers, der Weavers, von Joan Baez, Earl Robinson und weiterer Barden des "anderen Amerika" über den DDR-Rundfunk ein amerikanischer Journalist mit Namen Victor Grossman. Und mit ihm kommen wir schon fast in die Neuzeit. Nach dem Ende der DDR und des Kalten Krieges zog es den einstigen Waffendesserteur Grossman zurück in die USA. Dort wurde er zuerst einmal verhaftet und dann in Unehren, aber ohne weitere Folgen aus der Armee entlassen. So bekam noch alles eine "Ordnung".

So, und noch viel bizarrer, hängt alles mit allem zusammen. Das heute so fraglose Bewußtsein der Briten, in einer weit in die Vorzeit reichenden Folktradition zu stehen, wäre undenkbar ohne die encyklopädischen Sendefolgen, die Ewan MacColl in den späten 50er und frühen 60er Jahren via BBC ins Volk trug. Ewan MacColl brachte seine Frau übrigens aus USA mit. Es handelt sich bei Peggy Seeger um die Schwester des oben besprochenen Pete. ohne die Begründer der modernen Folk- und Protestsongbewegung Woody Guthrie und Pete Seeger wären sie heute alle nicht denkbar, die Neil Young und Bob Dylan, welcher letzterer bei seiner Ankunft in New York zuerst den sterbenskranken Woody Guthrie besuchte.

Pete Seeger folgt im Liedschaffen wie im Leben dem Leitspruch "Think global, act local!" Von ihm wurden sicher auch Unterhaltungskünstler wie Esther Ofarim oder Harry Belafonte ermutigt, in die internationale Folklore zu tauchen.

So sind die Liederleute der Welt eine große Gemeinde, spätestens seit dem gemeinsamen Protest gegen den Vietnamkrieg der USA. Diese Gemeinde lebte in der Civil Rights Movement der unterdrückten Rassen der USA ebenso wie in der westdeutschen antiatomwaffen-, Ostermarsch-, Antinotstandsgesetzgebungs- und antiberufsverbotsbewegung. Sie stählte sich am Protest gegen die griechische Militärjunta, in der Solidarität für Sacco und Vancetti, die Opfer eines vollendeten, und Angela Davis, die Opfer eines versuchten Justizmordes wurde. Die Rolle des Liedes war auch noch international, als es galt Reaganschen Starwars-Wahn entgegenzutreten und die Befreiungsbewegung Elsalvadors und Nicaraguas zu unterstützen. Heute ist die mobilisierende Rolle des Liedes wohl nicht mehr so groß.

Doch nicht nur Amerikaner haben die heutige Liedkultur geformt. Auch die Franzosen sind für deutsche Liedermacher, aber auch für Polen (Marek Grechuta) und Russen (Wladimir Wyssozki") prägend. Hier sei vor allem Georges Brassens genannt, dessen Stil starken Einfluß auf den frühen Franz Josef Degenhardt ausgeübt hat.

Georges Brassens lebte vom 22.10.1921 bis zum 30.10.1981. "Wolfgang Sandner (FAZ) schrieb in einem Nachruf: "Brassens war mit seinem groben Humor, seinen plebeischen Lyrismen, aber auch seinen musikalischen Zärtlichkeiten - und seinem schnörkellosen, lediglich gitarrebegleiteten Vortragsstil - einer der ganz Großen des französischen Chansons, der bei den Größten gelernt hatte: bei Rabelais die geistige Freiheit, bei Villon den Spott und die rotzig-frechen Sarkasmen, bei Aristide Bruant die Attacken gegen die Spießer und bei Felix Leclerc die musikalische Integrität." In seiner unverhohlenen Sympathie gegenüber Prostituierten, Dieben, Outsidern und Unangepaßten blieb er den besten anarchistischen Traditionen der französischen Kleinkunst treu und erwarb sich damit eine Beliebtheit, die quer durch alle Schichten der französischen Gesellschaft ging. Die etwa 135 Lieder, die er schrieb und selbst vortrug, wurden auf 17 Langspielplatten verbreitet, die eine Verkaufsauflage von rd. 20 Mio. erreichten. Dazu kamen viele Rundfunk- und Fernsehauftritte. Zu seinen bekanntesten Chansons gehören "Le Gorille", "L'Auvergnat", "La mauvaise reputation", "Je suis un voyou", "Le testament", "Le bistro", "Les lilas" und "Oncle Archibald", um nur einige zu nennen."

Der eben erwähnte Franz Villon als Ahnherr der anarchischen Spötter war übrigens auch wichtig für Brecht und mit recht heißt es im "Kleinen Testament" von Hannes Wader, er, Hannes Wader, habe "kräftig am Euter Franhz Villons gesaugt."

 

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Erstellt am 25.11.1998HTML-Fassung im April 2002Zuletzt geändert am 20.06.2004