Sieben Vorspiele zu einem Nachruf

Bestellter aber nicht gedruckter Beitrag für "Die Zeit" zum 3. Oktober 1990

 

I

Der Zug ist abgefahren.

Simmel gestikuliert noch herum: Was ist das für ein Argument, das jetzt den Nachdenklichen um die Ohren gehauen wird: Der Zug sei nicht mehr aufzuhalten, deswegen müsse man aufspringen. Ich sitze nicht gern in einem Zug, der nicht aufzuhalten ist.

Ich steig lieber auch nicht ein.

Aber wir fahren ja schon! Wir fahren auf festem Geleise mit großer Geschwindigkeit dahin. Wer aussteigt, bricht sich noch sicherer den Hals als seine Mitfahrer. (Ernst Jünger).

Da saßen wir noch in unseren Abteilen und wußten nicht, daß schon alles verloren war... Noch hatte sich nichts verändert, wie es uns schien. Doch schon hatte uns der Schacht nach der Tiefe aufgenommen. - Warum denn so düster, Herr Dürrenmatt?

Nichts gemerkt? Die Intellektuellen haben nichts gemerkt?!

Doch, unruhig sind sie geworden, soweit sie einen Sinn für Wandel hatten. Das geistige Klima in der DDR mußte ja den Atem der Perestroika verarbeiten. Die Krise hat sich dann schneller entwickelt, als das Bewußtsein von ihr.

Ich gebe dem Ostblock keine Chance mehr! So hatte sich mein Bruder, ein ganz normaler Arbeiter, gen Westen abgemeldet. Vergeblich hielt ich dagegen: Wenn der Osten in den Abgrund stürzt, reißt er den Westen mit! Darin waren sich strategisch denkende Leute in Ost und West doch einig, als noch die Mittelstreckenraketen aufgerechnet wurden.

Andere Züge sind gefahren, Reichsbahnzüge. Die Botschaftsbesetzer von Prag und Warschau sollten ziehen können, wenn sie sich noch einmal, diesmal gratis durch die DDR befördern ließen. Diese Trotzreaktion der regierenden Greise hätte rührend wirken können, hätte sie privaten Charakter getragen. Wie aber wird das mündige Volk der DDR mit der Tatsache umgehen, daß es zuletzt vom Schwachsinn regiert wurde? Soll nicht jedes Volk die Regierung haben, die es verdient?

Die DDR hatte viele Untergangsprognosen überlebt. Als aber mit den Reichsbahnsonderzügen vom 1. und 2. Oktober in Dresden und Leipzig die kritische Masse erreicht war, als auf den Straßen stattfand, was wir nur von Fernsehberichten aus fernen Ländern kannten, offene Empörung, da hat kaum jemand ernsthaft vorausgesagt, daß dieser Staat seinen 41. Geburtstag nicht mehr erleben würde.

Auch in die Parteigruppen der SED war Bewegung gekommen. Etwa jeder sechste Erwachsene war in der SED, kaum getrennt vom übrigen Volk. Die Partei hatte aber keine Strukturen für Opposition. Der interne Aufstand - alle warteten, daß jemand was tut - blieb aus.

Als er doch kam, waren die Züge schon gefahren, und noch immer war nicht klar, was mit dem Fahrplan nicht stimmte.

Die Anzeigetafel versprach eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Wo waren wir nur hingeraten? Statt Assoziation Dissoziation, zusammengehalten von einer ergrauten Hülle, die Risse notdürftig mit Schminke überdeckt.

So viel vergebliche Mühe!

Die Bilder sind alle schief. Das ist kein Zug auf "festem Geleise". Ich fühle mich inmitten einer Herde, die ums Leben trabt. Wehe, Du kommst unter die Hufe! Das Ziel muß irgendwo ganz in ihrer Nähe sein: deutsche Einheit. Dort begrüßt uns, was wir uns so sehr ersehnt hatten. Ein Heer von Beamten. Die kommen auch aus unserem Stall, riechen noch wie wir, doch die Kleiderordnung kennen sie schon.

 

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© by Juergen Trinkus 1990