Ein Foto, das während der Festveranstaltung im Theater Greifswald am 29.4.2000 entstand© Foto: Jürgen Peters, Greifswald, 05/2000
jt bei der Gratulation zur Jugendweihe> Theater Greifswald, 29.04.2000

Jugendweihe 2000 Festrede
gehalten im Theater Greifswald
am 29. April 2000

In einem Theater sitzen meist Zuschauer. Heute ist das anders. Dies ist Euer Tag, liebe junge Freunde hier vorn. Es ist zugleich Ihr Tag, werte Eltern, Geschwister, Anverwandte, Freunde und Lehrer unserer heutigen Hauptpersonen.

Eure Familie, das ist gar nicht so sehr eine Sache der Blutsverwandtschaft. Eure Familie, das ist etwas, was mit Euch gewachsen ist; es ist der Bund derer, die Euch auf die Welt und durch die Welt schleusten, hindurch durch die Momente, in denen Ihr ganz angewiesen ward auf die Menschen an Eurer Seite. Es muss Euch nicht peinlich sein, dass hier Leute versammelt sind, die am Wickeltisch bei Euch standen, die mit Euch fieberten, als der erste Milchzahn durchstieß, die sich mit Euch freuten, als Ihr den ersten Schritt ganz allein gelaufen seid, als Ihr Euer erstes Wort spracht (War das Mama, Papa oder Auto?), als Ihr Eure ersten Buchstaben lesen und gar schreiben lerntet, als Ihr Euch zum ersten Mal verliebt und dann diese Liebe verloren habt. Alle diese Wegmarken sind das Leben, welches Euch und Eure Anverwandten und anderen älteren Weggefährten aneinander gebunden, aufeinander geprägt hat. Nehmt Ihnen also nicht übel, dass sie Euch noch kennen als hilfloses Bündel, welches schrie nach Nahrung und Zuwendung. Wer damals für Euch da war, der wird es wohl immer sein, wenn Ihr dies braucht.

Kein anderes Lebewesen ist am Anfang und am Ende des Lebens so sehr und so lange angewiesen auf die Hilfe und Zuwendung seiner Artgenossen, wie der Mensch. Zwischen Anfang und Ende liegt der große Zeitraum, worin wir mehr geben können als wir nehmen müssen. In der fortwährenden Abfolge der Generationen bildet sich so ein fließendes Gleichgewicht aus geben und nehmen zwischen Eltern, Kindern und Kindeskindern. Nun seid Ihr es, die dieser gewaltige Strom des Lebens emporgetragen hat zu dem Punkt, wo Ihr wisst, dass Ihr selber schon Kinder machen könntet aber auch die Gründe kennt, weshalb es dafür noch zu früh ist. Dennoch der zyklische Lebensstrom wird Euch an die Stelle Eurer Eltern führen und vielleicht sind es dann Eure Kinder, die auf Euerm Platz in diesem Theater sitzen, und Eure Eltern sind dann Großeltern.

Dieser Gedanke greift allzu weit voraus. Was aber sicher ist: Stets gibt es Erwachsene, die Verantwortung tragen für das Wohl der Hilflosen, welche Pflege brauchen und Liebe. Diese Hilflosen sind wir alle - ich wiederhole das, weil es das Leben ja auch ständig wiederholt - am Anfang und am Ende unseres Daseins; und wir müssen in Schmerz und Qual vergehen, wenn uns Zuwendung und Liebe versagt bleiben. Also ist eine wahrhaft menschliche Gesellschaft diejenige, in der die Generationen einen Bund eingehen, in welchem Kinder und Großeltern nicht zu Kostenfaktoren oder Dienstleistungsempfängern verkommen. Mit dem aufkommenden Kapitalismus hat sich die Gesellschaft von diesem Ideal wegentwickelt. Auch der Sozialismusversuch DDR hat daran nichts geändert.

Sicher habt auch Ihr die Erwachsenen, auf deren Rat und Hilfe Ihr bautet, schon rat- und hilflos erlebt. Als Ihr anfingt, die Welt um Euch herum bewußt wahrzunehmen, änderte sich das soziale Koordinatensystem in Ostdeutschland sehr tiefgreifend. Damit mussten die, die solches gewollt haben, ebenso fertig werden wie die, die das nicht wollten. Ich möchte nicht sagen, dass sie Opfer waren, Opfer einer gescheiterten DDR oder Opfer einer Landnahme durch neue Vorturner. Die Opferrolle ist in diesem Gesellschaftsspiel scheinbar eine bequeme, doch darin liegt gerade das Problem, der Fallstrick. Dem Opfer gewährt man Mitleid, ihm gibt man Hilfe, doch kaum Achtung. Gerade in der durchgeplanten und überorganisierten DDR war es weit verbreitet und ein Stück weit auch berechtigt, für alles Mögliche den Staat verantwortlich zu machen. Er gefiel sich ja auch in der Rolle des Übervaters. An „Vater Staat“ oder die Partei wandte man sich mit Gesuchen oder Eingaben und bestätigte damit ganz nebenbei eigene Unmündigkeit. Man kann das auch heute noch tun, aber es ist sinnloser als je zuvor. Wenn ich keinen Job bekomme, liegt das in hohem Maße auch an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Aber diese Erkenntnis hilft mir nicht praktisch. Mir hilft lediglich diese Fragestellung: Wo ist auch nur der Zipfel einer Chance für mich, und was kann ich tun, um sie zu meistern? Und wenn ich dennoch scheitere? dann mag es ja tröstlich sein, fremdes Verschulden beklagen zu können. Allein, das hilft mir nicht. Mir hilft nur zu fragen: Wo war ich nicht gut genug? Wie werde ich besser? Solange ich noch ein Lid und ein Glied rühren kann, kann ich eingreifen ins Geschehen dieser Welt.

Unsere Gesellschaft ändert sich mit ihren Technologien dramatisch. Erwachsene stehen unter einem enormen Lerndruck, dem Ihr Heranwachsende scheinbar leichter gerecht werdet. Ich meine die Technisierung von immer mehr alltäglichen Lebenssituationen. Fernsehgeräte, Telefone, Autos, Geld- und Fahrkartenautomaten - bald nichts mehr scheint bedienbar ohne dialoggeführte Menüs. An ihnen kann sich bald keiner mehr vorbeimogeln. Die Computerisierung stellt anscheinend einen althergebrachten Lebenszusammenhang auf den Kopf. Ursprünglich ist es so, dass ein höheres Lebensalter bedeutete, dass der ältere Mensch mehr Wissen und Erfahrung ansammeln konnte, und auf Wissen, Fähigkeit und Fertigkeit beruht ein großer Teil der Autorität. Die Stellung und das Selbstwertgefühl der Älteren wird zusätzlich untergraben von der Macht der Verkaufsstrategen, der werbetreibenden Industrie und der dazu gehörigen Medienmaschinerie. Diese fixieren sich auf die 14- 49-Jährigen bzw. auf deren lockeren Geldbeutel (oder sagen wir moderner: ihre Kreditkarte).

Aber auch die Konsumenten, auf die strategisch gezielt wird, sind in diesem Spiel nur Objekte. Wer fit ist im Spiel mit der Computermaus, den Dialogfunktionen und dem Steuerknüppel, soll nicht vergessen, dass er zwar mitspielen darf, aber deshalb noch lange nicht das Spiel bestimmt.

Die Fähigkeit, hinter die Fassaden zu blicken, hat viel zu tun mit Lebenserfahrung. Diese sammelt man - wenn auch nicht zwangsläufig - im Älterwerden. Auch Qualitäten wie Menschenkenntnis, Charakterfestigkeit und das Wechselspiel zwischen Gefühl und Verstand sind bei Älteren meist vollkommener als bei Jüngeren. Haltet Euch an reifere Menschen, auch wenn das nur unter Vorbehalt geschehen mag. Kritische Distanz ist ja nie von Schaden, nur sollte sie nicht die Oberhand über unser Tun gewinnen, denn dann lassen wir mehr als wir tun, weil dann alles sinnlos erscheint.

Wir, die Älteren, haben uns hier mit Euch versammelt, um Euch feierlich zu bestätigen, dass Ihr als neue Glieder in die Gesellschaft der Erwachsenen eintretet. An mir, dem Redner, ist es, einige Wünsche zu formulieren, die wir Euch mit auf den weiteren Weg geben möchten. Aus dem bisher Gesagten haben sich schon einige solcher Wünsche ergeben: Lernt von Euren Vorfahren und Mitmenschen, aber baut Eure Zukunft auf die eigene Kraft und Selbstvervollkommnung! Ich wünsche Euch, dass Ihr Euch als Glieder einer Gemeinschaft begreifen könnt, die Euch Schutz und Rückhalt bietet, und in der Ihr auch die Wärme erlebt, die aus der Freude und der Liebe kommt, die Ihr den anderen gebt! Ich denke, dass ich im Namen Eurer Familien spreche, wenn ich sage, dass Ihr ruhig weit hinaus ziehen mögt in die Welt, die voller Möglichkeiten für Euch steckt, dass Ihr aber immer wissen sollt, dass Ihr jederzeit, gerade in den unausbleiblichen Momenten der Schwäche und des Scheiterns, hier, in diesen Euren Familien und bei Euren Freunden ein Zuhause habt! Es soll Euch also nicht ergehen, wie jenem Lehrer aus Aachen, der vor den Nazis nach Paris flüchten musste, dem es dort sehr schlecht ging, bis er Hoffnung fasste, weil ihm eine Stelle im australischen Sidney angeboten wurde. Als er dies den anderen Exilanten erzählte, meinte einer: Sidney, ist das nicht weit weg? Und er fragte zurück: Weit? Von wo? - Möge Euch dieses Gefühl äußerster Heimatlosigkeit erspart bleiben! Wisst, dass Ihr in dieser Stadt, in diesem Land Heimat habt, solange hier Menschen wohnen, die mit Euch die Erinnerung der Kindheit teilen, die Ihr nun hinter Euch lasst.

Es ist Zeit, Euch als äußeres Zeichen des Eintritts in die Gemeinschaft der Erwachsenen mit „Sie“ anzusprechen, und auch ich tue das nun. Sie, liebe junge Freunde, werden diese Anrede zunächst selbst ungewohnt, unpassend, vielleicht komisch finden. In nordischen Ländern sagt man „Sie“ nur zu den Mitgliedern der Königshäuser. Im Internet-Palaver sind alle per Du. Trotzdem ist die alt hergebrachte Anredeform ein Brauch, der viel sagt über das Miteinander der Menschen. Es ist ein Zeichen von Selbstbestimmung, wenn wir entscheiden, wer zu uns Du sagen darf und wer Sie sagen muss. Betrunkene, Behinderte und Ausländer werden meist gedutzt, was ein Zeichen von Geringschätzung ist. Gewalttäter Dutzen ihr Opfer, um ihm die Würde und sich selbst die Macht zu nehmen.

Sie können jetzt Anspruch darauf erheben, mit Sie angesprochen zu werden. Sie werden diesen Anspruch zunächst selbst nicht allzu absolut sehen, denn er ist noch brüchig wie die Stimme des Jungen im Stimmbruch. Es gab übrigens ein historisches Liebespaar. Beide waren sich sehr nahe und sagten trotzdem Sie zueinander, bis ins hohe Alter, bis ans Lebensende. Dies waren die französische Schriftstellerin und Feministin Simone de Beauvoir und der Philosoph Jean Paul Sartre. Es ist hier nicht Ort und Zeit, diese Geschichte zu erzählen. Sie, liebe Hauptpersonen dieser Feierstunde hier, werden ohnehin Ihre eigenen Geschichten machen, und mir bleibt nur noch, Ihnen dazu gutes Gelingen zu wünschen!


© by Juergen Trinkus, 2000
Meine erste Jugendweiherede

  • Manuskript einer Sendung des Kirchenfunks des Saarländischen Rundfunks mit O-Tönen