Was © Wulf Kirsten als "Nachsatz" zu "Rundgesang am Neujahrsmorgen" über Gisela Kraft schrieb, fand ich so treffend, dass ich nachfragte, ob dieser Text hier ins Internet darf. Also Fragte Gisela Kraft Wulf Kirsten und übermittelte mir dessen freundliches Einverständnis. Hir nun folgt also dieser, dem Büchlein von G.K. entnommene W-.K.-Text.

NACHSATZ

Auf Lebensumwegen kam Gisela Kraft, als andere ihr Studium längst abgeschlossen hatten, zu einem neuen, völlig anderen Lebensprogramm. 1972 nahm sie an der Freien Universität Berlin das Studium der Islamwissenschaft auf, das sie 1978 mit der Promotion abschloss. ihre Dissertation galt dem bedeutenden türkischen Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts: Fazil Hüsnü Daglarca. Späterhin erschienen mehrere Auswahlbände seiner Lyrik in ihren deutschen Nachdichtungen, u. a. ein repräsentativer Überblick in der Weißen Reihe des Verlages Volk und Welt Berlin ("Brot und Taube", 1984). Aus ihrem Nachwort zu diesem Band habe ich mir den zentralen Satz über den Dichter, dem Türkisch als"Welt- und Ursprache" galt und der weit über ihn hinausweist, gemerkt und angelegen sein lassen: "Der Kosmos braucht die Dichter aller Weltsprachen, um sich in ihrem Werk tausendschichtig, wie er ist, am Werden zu erhalten." Neben Daglarca übersetzte sie Theaterstücke, Prosa und Lyrik von Näzim Hikmet, Aras Ören, Bekir Yildiz, Aziz Nesin, Vasif Öngören, Yunus Emre, Pir Sultan Abdal.

1977 trat Gisela Kraft mit eigenen Arbeiten auf den Plan der Literatur. Zunächst mit Bühnenstücken, von ihr Spieltexte genannt, die in Korrespondenz zu ihrer früheren Theaterarbeit zu sehen sind. Seither hat sie kontinuierlich veröffentlicht: Gedichtbände, Erzählungen, Märchen, Romane, Essays. Seit zwanzig Jahren gehört sie zum Autorenkreis der Düsseldorfer Eremiten-Presse, wo erst jüngst die Erzählung "Prinz und Python" erschien, eine "bitter-komische Liebesgeschichte zwischen einer Orientalistin und einem Chinesen", der neben einem echten Python noch andere exotische Tiere seinem Hausrat beizugesellen liebt, was dazu verführt, dass die Beziehungen (heute gern als Beziehungskiste apostrophiert) am Ende zu den Exoten stärker sind als zur Partnerin.

Als sie 1984, nicht nur von einer Seite beargwöhnt, sich noch einmal einen existenziellen Programmwechsel verordnete, indem sie von Berlin-West nach Berlin-Ost übersiedelte, fand sie (zunächst) im Aufbau-Verlag so etwas wie eine geistige Heimstatt. Ihren "Einstand" im Aufbau-Verlag gab sie mit der Gedicht-Auswahl "Katze und Derwisch" (1985), in die sie ihre anatolischen und mediterranen Erlebnisse einbrachte. In den Mittelpunkt ihrer literarischen Arbeit rückte ab Mitte der achtziger Jahre ein auf mehrere Bände angelegtes Novalis-Projekt. 1990, in dem Jahr, als Bücher im Osten Deutschlands nicht sonderlich gefragt waren und vorwiegend im Reißwolf oder auf Müllhalden landeten, erschien als Band 1 der Roman Prolog zu Novalis". Mit"Madonnensuite. Romantiker-Roman", 1998 bei Faber & Faber in Leipzig erschienen, hat sie ihre Studien zu Novalis und den jenaer Frühromantikern in einem auf Aphorismen gezogenen Roman ebenso ausdrucksstark wie bekennerhaft fortgeführt, jedoch noch längst nicht abgeschlossen. Seit ihrem Umzug nach Weimar im Jahre 1997 bewegt sie sich auf klassischem Boden, ohne jedoch von den Romantikern und in Weimar unterbelichteten Größen wie Jean Paul abzulassen.

Wenn in der Erzählung "Prinz und Python" mehr oder weniger verdeckt bereits autobiografische Bezüge anklingen, so erzählt sie in der Familienchronik "Rundgesang am Neujahrsmorgen" erstmals aus ihrer eigenen Biografie, vielschichtig mit der Familiengeschichte verwoben. Mehrere, sich breit und personenreich verschränkende Generationen werden geschichtet, getürmt in ihren Verzweigungen und Verästelungen. Zeitrafferstil und der durchgängig ironische Unterzug, der sich zugleich jeder Karikierung verschließt, ermöglichen eine etwa gleichbleibende Distanz zu allen agierenden Personen. Ausgebreitet wird eine Familiengeschichte, gutbürgerlich fundiert, in die sich fortwährend die Zeitläufte einmischen, an denen die deutsche Geschichte heftig gedreht hat. Die Handlung, die bis zum Jahr 1950 reicht, bündelt Lebensfäden, die sich zunächst zu verwirren scheinen angesichts des furiosen Erzähltempos, das retardierende Momente und behäbiges Dahinfließen strikt ausschließt, dann entzurrt werden beziehungsweise dies selbsttätig bewerkstelligen. Das Aufblättern der Woher-Wohin-Lebensbilder führt auf zahlreiche Schauplätze, von Schlesien an die Saar, ins Ruhrgebiet und an die Ostsee. Innerhalb dieses weitmaschig gespannten Netzes bleibt Berlin der Mittelpunkt, wird jedoch nie ruhender Pol. Den gibt es nicht. Den lässt der rasche Szenenwechsel, der jedes Ausmalen verbietet, gar nicht erst entstehen. So wie die Wege auch nach Pommern und in die Pfalz führen, erreicht das Kind Rosa, dem Jahrgang der Erzählerin zugehörig, Thüringen. Eine der Tanten fungiert als Oberin im Sophienhaus zu Weimar. Ihre Wohnung befindet sich am Wilden Graben, den die Thüringer Sintflut (Naturkatastrophe nach Wolkenbruch vom 29. Mai 1613) ausgeschürft haben soll. Während der zahlreichen Bombenangriffe auf Berlin wurde im Februar 1945 als sicherer Ort "das stille Weimar" angesteuert. Und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt wurde auch Weimar von mehreren Bombardements heimgesucht, die verheerende Zerstörungen im Stadtgebiet anrichteten. In dem nahe gelegenen Städtchen Rastenberg erlebte Rosa mit Mutter und Schwester das Kriegsende. Die frühen Aufenthalte in Thüringen gaben wohl auch 1997, als sie ihren Wohnsitz von Berlin nach Weimar verlegte, das Gefühl, die Gewissheit, in keine fremde Stadt zu ziehen, wohl wissend, dass das Weimar von 1945 nicht mehr existierte.

Das Resümee? "Es war einmal ein Paar, Willi und Elli, die hatten drei Töchter und hatten zwei Kriege überlebt ... Elli will wissen, wie die Schlacht ausgeht. Sie bestellt ein Horoskop. Silvester, beim Punsch, wird es verlesen. Geschick und Missgeschick, durch Mühsal zum Glück..."

Weimar, 21. Mai 2001

Wulf Kirsten

© "Edition Muschelkalk" der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.,
Herausgegeben von Wulf Kirsten:
Gisela Kraft: "Rundgesang am Neujahrsmorgen: eine Familienchronik",
Wartburg Verlag, Weimar 2001, S. 62-64

 

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