Recycling für die Ewigkeit.
Von der Liebe der Tonträgerindustrie zu den Schätzen der Archive. -
Rheingold oder Gral?

Vortrag 07.Oktober 2000 in Boltenhagen

Technische Vorbemerkung von jt, dem Publisher

Dies ist - ganz abgesehen von der kleinen Hörprobe, die lediglich den Zweck erfüllen kann, mal zu hören, wie Thomas Otto live klingt, wenn er referiert -, hier doch ein reiner Reader. Hinter den Links zur Playliste sollen die geneigten Leser also bitte keine Soundfiles erwarten. Fürs Hörvergnügen muss schon jeder selber sorgen. Wir liefern nur die Discographie dafür.

 

Einspiel 1!

Vom Vinyl zur CD

Was für ein Stück - die Ouvertüre von Mozarts "Hochzeit des Figaro"! und was für eine Feuerwerk der Interpretation. Wilhelm Furtwängler dirigierte die Wiener Philharmoniker. Diese Aufnahme entstand am 07. August 1953 anläßlich der Salzburger Festspiele. Wie Ihnen gleich aufgefallen ist, hörten wir eben einen Live-Mitschnitt, den der österreichische Rundfunk seinerzeit besorgte. Die Salzburger Festspiele muß man wahrscheinlich auch nicht näher erklären. Nur kurz: Es gibt sie seit gut 75 Jahren und sie dürften für all jene, die daran teilnehmen konnten, eine Weihestunde der Musik gewesen sein, mit unwiederholbaren Momenten. Flüchtige Stunden höchsten musikalischen Glücks. Inzwischen lässt der Österreichische Rundfunk seit mehr als einem halben Jahrhundert die Welt an diesem Glück teilhaben. Seither ist ein "einzigartig" zu nennendes Archiv aus Tondokumenten entstanden, das einen Dornröschenschlaf schlief, bis die Salzburger Festspiele selbst mit der Herausgabe der "Festspieldokumente" begann. Für diese Edition werden ausschließlich Originalbänder des ORF verwendet, die nach sorgfältiger künstlerischer Prüfung und technischer Überarbeitung die Grundlage für eine digitale Überspielung bilden. Eine einzigartige Gelegenheit, die Festspielgeschichte nachzuerleben.

Mir schien diese Aufnahme ein guter Auftakt, nicht nur, weil sie, wie das Ouvertüren so an sich haben, die nächsten zwei Stunden musikalisch und fulminant einleitet, sondern weil sie auch beispielhaft für das Thema "Recycling für die Ewigkeit" steht.

Mit uns als musikhörenden Menschen findet doch etwas Merkwürdiges statt. Wurden wir nicht mit den Jahren daran gewöhnt, das Musikhören mit den höchsten Ansprüchen zu verbinden? Ganz bestimmte Verstärker sind nötig, es können nicht irgendwelche Boxen sein und selbst die CD Player bedürfen gewisser technischer Ausstattungsmerkmale.

Schallplatten? Was war das gleich? Der Segen des Digitalen schwebt seit 11 Jahren über allem. Noch heute gilt vielen als Qualitätsmerkmal beim Kauf einer neuen CD nicht, was sie enthält, sondern ob sie in ADD oder DDD aufgenommen worden ist.

Und zugleich zieht es uns zur Andacht vor die Boxen, wenn etwas erklingt, wie wir es gerade hörten. Wir nehmen das Knistern in Kauf, diesen sehr flachen Mono-Klang, die näselnden Stimmen und sind in der Lage zu denken: Wie schön das ist! Was passiert da bei uns? Jemand, der zu solcher Musik kein Verhältnis hat, wird den Kopfschütteln und sagen: "Was für ein Gekrächze!"

Für uns aber findet zweierlei statt: Wir hören und wir erinnern uns. Das ist die Musik von einst, die wir mit unseren Ohren heute hören. Und woran wir uns erfreuen ist nicht die Klangqualität, sondern das Vermögen der Künstler, uns in den Bann zu ziehen.

Nun kann ich natürlich schwerlich behaupten, mich einer Aufnahme mit Enrico Caruso zu "erinnern". Das ist rein biologisch nicht möglich. Und doch, so behaupte ich, funktioniert es. Mit dem "Erinnern" definieren wir ein Idealbild von künstlerischen Leistungen. Dieses Ideal wird aus den alten Aufnahmen bestenfalls "erkennbar". Das, was fehlt, geschieht im Kopf. So, wie man heute in der Lage ist, per Computer nach Eingabe bestimmter Daten Simulationen zu erschaffen, so sind auch wir in der Lage, unter Berücksichtigung bestimmter musikalischer Erfahrungen, Hör-Erlebnisse, Fakten zu den Künstlern und ihrer Zeit und schließlich durch die Aufnahme selbst, uns dieses Bild zu erschaffen uns auf eine Hör-Reise in die Vergangenheit zu begeben, uns zu "erinnern".

Vor gut 11 Jahren hielt die CD Einzug in die Wohnzimmer und nahm direkten Einfluß auf die finanziellen Verhältnisse einzelner Haushalte und rannte gleichzeitig gegen traditionelle Wert- und Klangvorstellungen an.

Pikanterweise fiel dieses Ereignis fast zeitgleich mit jenem zusammen, dessen Jahrestag wir kürzlich begingen. Ich persönlich erinnere mich noch gut an die Zeit, da hierzulande beinahe sämtliche Wertsysteme zusammenbrachen, wie sich die Papiercontainer hinter den Bücherhandlungen mit "Altbeständen" füllten, weil Platz geschaffen wurde, für all die neuen Koch- und Pferdebücher. Aus den Plattenläden wurde nahezu der gesamte Bestand der Labels Eterna und AMIGA des VEB Deutsche Schallplatte verramscht und entfernt. Es waren es die gleichen, für die noch wenige Wochen zuvor der musikbegeisterte ausländische Tourist im Berliner Kunstsalon Unter den Linden ohne mit der Wimper zu zucken seine teuer eingetauschte DDR-Mark über den Tresen schob. Wie auch nicht - schließlich handelte es sich dabei um Aufnahmen mit Orchestern von Weltklasse, wie die Staatskapelle Berlin unter Otmar Suitner, Kurt Masur mit seinem Gewandhausorchester Leipzig oder die traditonsreiche Dresdner Staatskapelle, auf deren Dirigentenpult sich nahezu alle großen Dirigenten der letzten 100 Jahre getummelt haben. Sänger wie Peter Schreier oder Theo Adam, ....

Der Zweifel regte sich, ob das, was sich in den privaten Bücher- und Plattenschränken angesammelt hatte, wirklich noch von Wert war. Im Ergebnis solcher Verunsicherung fand denn vielerorts das große "Aussortieren" statt, während gleichzeitig . die Vinyl-Freaks fröhliche Urständ' feierten. Wochenend-Schnäppchen-Reise - irgendwo war immer irgendwas zu haben: hier die alten CBS-Aufnahmen des legendären Mahler-Zyklus der New Yorker Philharmoniker unter Bernstein, dort der EMI-Aufnahme mit Otto Klemperers bewegendem "Deutschen Requiem" von Johannes Brahms mit Elisabeth Schwarzkopf, den Schumann-Sinfonien unter Franz Konwitschny, oder, welch ein Glücksfall, der Live-Mitschnitt der "Lucia di Lammermoor" an der Berliner Staatsoper vom September 1955, mit Maria Callas unter Karajan

Der vor 10 Jahren für tot erklärte Plattenspieler überlebte also wider Erwarten doch in den HiFi-Geschäften, allerdings auf höherem Niveau! Und verschiedene Plattenlabel machen sich heute sogar daran, alte Vinyls in einer auch vom Preis her luxeriösen Ausgabe wiederzuveröffentlichen.

Die Zahl der Interessenten an den Zeugnissen der Tongeschichte auf dem Gebiet der klassischen Musik ist groß und das nicht erst seit diesen Tagen. Sie reicht weit zurück bis in die 60er Jahre. Genau genommen hat es sie immer gegeben.

Für all jene, deren Anteilnahme an der frühen Zeit der Musikaufnahmen mangels geeigneten Equipements und entsprechender Tonträger bislang mit unbefriedigendem Ergebnis belohnt wurde, brachen jetzt allerdings goldene Zeiten an. Wie gerade gesagt: es gab und gibt ihrer viele. Ich behaupte sogar, daß ihre Zahl noch steigen wird, weil der kulturell/künstlerische Wert der frühen Jahre der Musik"Produktion" noch seiner eigentlichen Entdeckung harrt

Dieser Umstand nun muß für die Musikindustrie unter mindesten zwei Aspekten relevant sein. Der idealistische: "Gott sei Dank, es gibt noch und wieder Leute, die wissen, was wirklich gut ist." Der andere Aspekt, der kommerzielle, ist zugleich der, mit dem die Musikindustrie zunächst und immer wieder in Verbindung gebracht wird: "Was für ein Markt! Was für Umsatzchancen, was für ein kommerzielles Potential doch in diesem alten Zeug noch steckt!"

Sie merken bereits an der Zuspitzung, daß ich eher zu jenen zähle, die eine Reduzierung auf diesen einen Aspekt als nicht gerecht empfinden. Wir werden Gelegenheit haben, im Einzelnen auf die, wie ich meine, großen Leistungen einzelner Plattenfirmen auf diesem Gebiet einzugehen.

Bevor wir uns einem weiteren Aspekt zuwenden - an dieser Stelle Arturo Toscaninis Interpretation der Berlioz'schen Suite über Romeo und Julia. Aufgenommen im Februar 1947.

Wir hören die Sätze "Romeo allein" und "Traurigkeit".

Einspiel 2!"

Neue Kriterien für das Hören und Aufnehmen von klassischer Musik?

Für die Produzenten von Aufnahmen der klassischen Musik stellte sich ab Mitte der 80er nicht mehr nur die Frage der Interpretation durch den Dirigenten - in zunehmenden Maße wurden jetzt auch Faktoren berücksichtigt, auf die kein Barockkomponist: der Einfluß einer Vielfalt neuer Medien auf den Hörer, veränderte Rezeptionsgewohnheiten...

Diese Entwicklung lässt sich sehr deutlich verfolgen, hört man sich Aufnahmen aus den letzten 40, 50 Jahren der Schallplattengeschichte an. Im direkten Vergleich alter und neuer Aufnahmen fällt auf, welche Wandlung Kriterien wie Lautstärke, Dynamik und Klangintensität vollzogen haben - bei neuen Aufnahmen sind diese Merkmale unvergleichlich intensiver, "drücken" mehr. Diese Entwicklung wird nicht nur durch die weiterentwickelten technischen Möglichkeiten befördert - sie kommt den heutigen Hörgewohnheiten, zumal jüngerer Menschen, sehr entgegen. Es entspricht den täglichen Erfahrungen mit dem Umgang einer ganz anders gearteten Musik....

Fragwürdig zumindest ist, inwieweit das für den Charakter der Musik aus dem klassischen Bereich zutrifft. Lassen sich solche Kriterien automatisch auf diesen Bereich übertragen, auf Musik, die vor drei, zweihundert Jahren entstand? Man stelle sich einmal die Räume vor, für die sie komponiert wurde, vergegenwärtige sich, welche Bedingungen der Komponist zur Aufführung seiner Werke vorfand. Schließlich aber die Frage, und die scheint mir ganz wesentlich: Welches waren seine eigenen Intentionen und Beweggründe, sich auf diese bestimmte Weise, mit diesem ganz bestimmten Werk zu äußern?

Natürlich macht der Einfluß solcher technischen Entwicklungen nicht Halt vor der künstlerischen Interpretation von Musik. Lauter und knalliger, effektvoller musizieren - das schafft in diesen Zeiten der Sinnüberflutung mehr Aufmerksamkeit, also bedient man sich solcher Methoden.

Unlängst erzählte mir ein Dirigent von einem Radioerlebnis, das ihn geradezu bestürzte. Der WDR übertrug aus Köln Bruckners 9. Sinfonie. Weil hatte sich beim ersten Satz zugeschaltet Was ihm da aus dem Lautsprecher entgegenschlug, war von den Noten her durchaus als Bruckners 9.Sinfonie zu identifizieren. Jedoch blieben bei dem ohrenbetäubenden Lärm die Intentionen des Komponisten auf der Strecke. Bruckners Neunte, die unvollendet bleiben sollte, in der das Aufbäumen und der Schmerz der Welt einem Abschiednehmen weicht. Erster Satz, Adagio ...... Aus dem Radio kam er als ein Gewaltmarsch daher.

Das Schlimme daran war, daß ihm ein derartiger Umgang mit dieser Musik gar nicht neu war.

Immer wieder, wenn er als Gastdirigent mit einem Orchester arbeitet, stellte er fest, daß der größte Teil er Musiker Ohropax in den Ohren hatte, weil er Lärm im Orchester unerträglich geworden ist. Welch eine Absurdität! Gerade beim Musik-Machen, dem schönsten und höchsten, was Menschen m.E. miteinander tun können, wo es darauf ankommt, daß jeder auf jeden hört, um das Gesamtkunstwerk zu begreifen und sich als Teil des Ganz zu fühlen, gerade da schützt man sich voreinander! Weil nicht mehr Musik, sondern Lärm diesen gemeinsamen Umgang miteinander dominiert.

Ist es da ein Wunder, wenn für viele Musikliebhaber und auch Musiker die frühen Jahre der Stereophonie, also grob gerechnet die 50er und 60er Jahre als Idealfall für die Musik gelten? Die großen Namen wie Karajan, Callas, Wunderlich, Fischer-Dieskau, Di Stefano und so viele andere.

Und ist es da nicht klar, daß die Industrie auf solche Bedürfnisse reagiert? Sie kann es doch. Und sie tut es zum Glück!

An dieser Stelle scheint mir ein Hinweis nötig: die Aktivitäten der Schallplattenindustrie erstreckten sich bereits in den Anfängen nicht nur auf die Klassik, sondern natürlich auch auf und gerade auf das Gebiet der damaligen populären Musik. Das war in Amerika natürlich zunächst mal der Jazz und auch in Europa spielte die Tanzmusik eine große Rolle im Plattengeschäft. Es ist, wie Sie sich denken können, nötig, sich auf einen Bereich zu konzentrieren und ich habe mich dabei für die Klassik entschieden.

Ein bisschen Historie

Die Geschichte der Schallaufzeichnung und ihrer Vermarktung umspannt das gesamte 20. Jahrhundert. Ihre Entwicklung vollzog sich im wesentlichen in drei Abschnitten:

  1. Die sog. "akustische Ära" wird eigentlich auf den Zeitraum von 1900 bis 1925 datiert.
    Aber genau genommen beginnt sie gar noch einige Jahre früher und ist, wie allgemein bekannt untrennbar mit dem Namen Emile Berliner verbunden. Dessen Erfindung, Töne über einen Trichter einzufangen und die Schwingungen auf einer Wachswalze festzuhalten um sie dann erneut erklingen zu lassen, geht ja schon auf das Jahr 1895 zurück.
    Als Emile Berliner nun im Juli 1897 seinen Angestellten William Barry Owen zum erstenmal nach London entsandte, sollte dieser schon Produkte der United States Grammophone Company of Washington D.C. vermarkten. Doch die neu gegründete English Grammophone Company erkannte schon sehr bald den Bedarf an Schallplattenproduktionen mit europäischen Künstlern. Berliner sandte daher mit Fred Gaisberg einen Aufnahmefachmann nach London. Im August 1898 entstanden im Keller des Firmenhauptsitzes der English .Grammophone Company in der Londoner Maiden Lane 31 die ersten europäischen Schallplattenaufnahmen. Das waren zunächst mal kurze klassische Stücke und beliebte Tanzmusik. Schon bald darauf aber begann sich Gaisberg in Europa nach den besten Interpreten für seine Schallplattenaufnahmen umzuschauen.
    Wenngleich, wie noch zu hören sein wird, von Anfang an verschiedene Firmen und durchaus in Konkurrenz zueinander die Entwicklung des Mediums Schallplatte vorantrieben, so blieb das Grundprinzip doch das gleiche: Sänger und Instrumentalisten plazierten sich vor einem großen konischen Trichter und sangen und spielten auf diesem Wege direkt auf das Medium, entweder eine Platte oder eine Wachswalze. Seit Beginn der 20er Jahre fand die Verwendung des Grammophons als ernstzunehmende Form der Unterhaltung im eigenen Heim immer mehr Verbreitung.
  2. Die Mono-Ära dauerte von 1925 bis 1957. Das wesentlichste Merkmal: Das akustische Horn, der Trichter, wurde durch das Mikrophon ersetzt. Mit diesem Entwicklungsschritt expandierten die Möglichkeiten, denn nun war es möglich, Orchester, Sänger und Chöre, Konzerte mit Soloinstrumenten ganz differenziert aufzunehmen und - ein weiterer wichtiger Schritt: Man konnte die für die Aufnahme vorgesehenen Räume verlassen und in die Konzertsäle und Opernhäuser gehen und so einem Riesenpublikum detailgetreu und atmosphärisch stimmig die Musik übermitteln, ihm als den Eindruck vermitteln, live dabei gewesen zu sein.
    Zwischen 1948 und 1957 fanden aufgrund technischer Innovationen noch einmal weitreichende Veränderungen in der Schallplattenbranche statt. Zunächst einmal wurde die alte Wachsaufnahmemethode in fünfminütigen Matrizen durch Magnetbandaufzeichnungen abgelöst. Dadurch wurde es möglich, Aufnahmen zu bearbeiten, so daß ein bereits eingespieltes Werk in beliebig viele Sequenzen aufgeteilt werden konnte. Später kam die Viny-Langspielplatte mit Mikrorillen auf, mit der die Nebengeräusche erheblich gesenkt und die Spieldauer auf 20 Minuten und mehr pro Seite ausgedehnt wurde.
    Der technische Fortschritt bedeutete zugleich auch, daß die Schallplattenindustrie von Anfang an konkurrenzfähig mit einem anderen, nun aufkommenden Medium blieb, das seinerzeit ebenfalls rasant auf den Markt drängte: das Radio. Nicht nur das, beide korrespondierten von nun an in feinster Weise miteinander!
  3. Die Stereo Ära schließlich, die 1957 begann, markiert einen weiteren Schritt: die Stereophonie. Diese ermöglichte dem Zuhörer nun eine zusätzliche, bis dahin unbekannte Dimension: den räumlichen Klang.
    Die Plattenindustrie sah sich durch diese gravierende Weiterentwicklung allerdings auch vor ein Problem gestellt: es würden große Anstrengungen vonnöten sein, um das Klassikrepertoire, das zu diesem Zeitpunkt ja schon in einer unglaublichen Breite vorhanden war, neu einzuspielen! Sie kennen die Versuche, derartiges noch zu verfeinern, zum einen durch die Kunstkopfstereophonie oder das in den letzten Jahren sehr in Mode gekommene Dolby-Surround.

Es bedarf keiner besonders großen Anstrengung, sich vorzustellen, daß sich in den Rundfunk und Industrie-Archiven im Laufe der Jahre sagenhafte Mengen an Schätzen aus der Vergangenheit angesammelt haben, von denen erst Bruchstücke ans Tageslicht gekommen sind. Nun ist es beileibe nicht so, daß diese Archive erst jetzt zum Ausgang des Jahrhunderts geöffnet werden, um, einer Mode folgend, Sensationen aus alter Zeit zu verhökern.

Bereits in den frühen 60ern gingen verschiedene Plattenfirmen daran, ihre Archive aufzuarbeiten und sie der interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren. Wir werden in den nächsten Stunden dazu genaueres erfahren.

Die frühesten Aufnahmen

Tauchen wir also ein in die Geschichte mit einigen Beispielen für die rege Aufnahmetätigkeit der Herren Gaisberg/ Berliner um die Jahrhundertwende.

Als die Londoner Altistin Edith Clegg am 18.Oktober 1898 in die Kellergewölbe der Londoner Maiden Street 31 hinabstieg und sich vor der dort positionierten Apparatur des Produzenten Gaisberg aufbaute, stand das Programm fest: Das "Ave Maria" von Franz Schubert (D.839)

Es wird Mrs Clegg kaum bewußt gewesen sein, daß sie gerade die erste Schubertplatte besang, die je in Europa aufgenommen wurde.

Einspiel 3!

Da mit der frühen Aufnahmetechnik nur ein begrenzter Klangbereich erfaßt werden konnte, war es sehr kompliziert, den Klang von Violine und Klavier angemessen wiederzugeben. Dennoch wurde versucht, alle Musikgattungen abzudecken. Der Auszug aus Mendelssohns Violinkonzert wird von Jaques Jacobs, dem Violinisten und Leiter des Orchester vom Trocadero Grill gespielt, ein Restaurant, in dem Gaisenberg an seinem ersten Sonntagabend in London gegessen hatte. Die Salonkapelle begeisterte Gaisenberg dermaßen, daß er Jacobs später in die Maiden Lane bestellte...

Diese Aufnahme entstand 5. April 1899

Einspiel 4!

Glücklicherweise kam das Grammophone noch rechtzeitig um Spielproben eines der berühmtesten Geiger der Jahrhundertwende festzuhalten. Der Name Joseph Joachim ist untrennbar mit dem Namen seines Freundes Johannes Brahms verbunden, der Joachim sein einziges Violinkonzert widmete.

Joseph Joachim stimmte, wenn auch widerwillig, der Einspielung von fünf Titeln zu, darunter der "Ungarische Tanz Nr. 2 in d-Moll" seines Freundes Brahms. So geschehen Anfang 1903 in Berlin.

Einspiel 5!

Masterworks Heritage/ Sony Classical

Die Vorgänger von Sony Classical - Columbia und CBS Masterworks spielten in allen Phasen der Geschichte der Schallplatte eine wichtige Rolle, nicht zuletzt durch die technischen Innovationen - die einseitig bespielte 78-Platte kam schon 1902 auf den Markt, die erste Langspielplatte 1948.

Mitte der 90er Jahre entschloß man sich bei Sony Classical, die Archive unter dem Gesichtspunkt interessanter Einspielungen und großer Künstlerpersönlichkeiten zu durchforsten und eine Auswahl für eine Wiederveröffentlichung auf CD freizugeben.

Bei Aufnahmen, die vor der Einführung des Masterbandes (um 1949) entstanden, haben die Ingenieure von Sony Classical auf die wenigen Metallmatrizen, die noch erhaltengeblieben waren und auf eine große Anzahl Schellackplatten zurückgegriffen. In allen Fällen begann das Bearbeitungsverfahren mit dem Reinigen der Platten durch professionelle Reinigungsmaschinen.

Um eine saubere und möglichst störungsfreie Wiedergabe der Platten zu erlangen begann jetzt ein komplizierter und langwieriger Bearbeitungsprozess. Hier für wurde ein spezieller Plattenteller von der Größe eines Küchenherdes und einem Gewicht von 750 Pfund angefertigt. Auf eine Granitplatte montiert, bewegt er sich in komprimierter Luft, um etwaige Vibrationen zu dämpfen. Die Platten werden durch Vakuum auf dem Plattenteller fixiert und mit verschiedenen Nadeln, deren Größe zwischen 1,0 und 1,5 mm liegt, abgespielt. Dabei wird die Abspielgeschwindigkeit auf die exakte Einspielgeschwindigkeit justiert, da der Antrieb früherer Abspielgeräte nicht immer dem Standard von 78 U/Min. gerecht wurde. Speziell entwickelte Vorverstärker mit 64 verschiedenen Wiedergabekurven wurden benutzt, um den Klang so originalgetreu wiedergeben zu können.

Wenn dann die Wiedergabeschwierigkeiten wie Rillenabnutzung oder Schnittfehler auf den Originalplatten minimiert worden sind, wird die Aufnahme in 20-Bit-Digitalformat übertragen, wobei die Rauschunterdrückungssysteme CEDAR und Sonic Solutions NoNoise zur Anwendung gelangen, um kurzfristiges Knistern zu beseitigen. Jenes Zischen jedoch, das Teil des damaligen Aufnahmeprozesses war, wird nicht entfernt, um den Originalklang nicht seiner Sonorität zu berauben.

Hören wir eine Aufnahme, für die der belgische Geiger Eugene Ysaye am 20. Dezember 1912 vor den Trichter des Columbia-Studios in New York, 30. Straße trat. Er spielt Emanuel Chabriers Piecé pittoresque, das Scherzo, am Klavier begleitet von Camille DeCreus.

Einspiel 6!

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts beginnt ein Kopf-an-Kopf-Rennen einzelner Firmen, wenn es um Stars, um Veröffentlichungstermine, um das Image geht.

Columbia Records plante in Amerika die Veröffentlichung einer Serie von Starporträts. Das Konkurrenzlabel Victor hatte gleiche Pläne für Europa. Im März 1903 erschien in den USA eine Pressemitteilung folgenden Inhalts:

Zum ersten Mal in der Geschichte des Grammophons wurden erfolgreich die Stimmen weltberühmter Sänger aufgenommen - Edouard de Reszke (der führende Baß unserer Zeit), Scoti und Campanari (die führenden Baritone) und viele andere Mitglieder der Metropolitan Opera Company. Langwierige Experimente, immenser Zeit- und Geldaufwand sowie die konzentrierte Mitarbeit der Künstler haben schließlich zum Erfolg geführt. Jede Platte vom jeweiligen Sänger handsigniert. Die Tonträger sind 10 Zoll groß, flach und unzerbrechlich; ihre unverfälschte Klangqualität lässt die kühnsten Träume der Grammophon-Freunde wahr werden. Signor Mancinelli, Chef der Metropolitan Opera Company, sagt über die schallplatten: "Ich habe den Stimmen der Metropolitan-Opera-Sänger mit großem Vergnügen gelauscht. Sie klingen völlig naturgetreu."

Diese Zeitungsmeldung "enthüllte" auch, daß die Aufnahmen "Unsummen" verschlungen hätten. De Reszke soll für drei Plattenseiten 1000 Dollar bekommen haben, Marcella Sembrich gar 3000.

Die Platten wurden seinerzeit für 2 Dollar vertrieben. Dieser Preis war eine mehr oder weniger demokratische Maßnahme, mit deren Hilfe die soziale Kluft, die das Opernpublikum auch damals schon teilte, zu überbrücken. In der Pressemitteilung heißt es weiter:

Abertausende Männer und Frauen von erlesenem Musikgeschmack haben noch nie in ihrem Leben einen Ton aus einer großen Oper gehört und hatten noch keine Möglichkeit zu entdecken, wie Musik klingen kann, wenn sie meisterhaft dargeboten wird. Sei es, weil ihre finanziellen Mittel dafür nicht ausreichen oder ihr Wohnort viel zu weit entfernt von den großen Musikzentren liegt. Mit großzügiger Unterstützung der Columbia Phonograph Company hat Grammophone berühmte Sänger zu ihren Konditionen verpflichtet, wie hoch diese auch sein mochten. Es verdankt sich den genialen Einfällen und den unermüdlichen Anstrengungen einiger weniger Menschen, die sich mit Leib und Seele dem Streben nach Erfolg verschrieben haben, daß große Opern und großartige Sänger nun bei arm und reich zu hören sind.

Hören wir an dieser Stelle zwei der großen Stars jener Jahre. Ernestine Schumann-Heink war legendär für ihren Stimmumfang von nahezu frei Oktaven, die sie kultiviert zu singen imstande war. Ihre letzte Rolle an der MET war die Erda. Man schrieb das Jahr 1932 und Frau Schumann -Heink stand bereits in ihrem 71 Lebensjahr! Die folgende Aufnahme, Schuberts "Der Tod und das Mädchen" entstand um das Jahr 1902/03 Am Klavier wird sie begleitet von Charles Adams Prince. Im Anschluß daran hören wir eine 1907 entstandene Aufnahme mit dem Bariton Anton van Rooy. Er singt Robert Schumanns "Die beiden Grenadiere" nach einem Text von Heinrich Heine.

Anton van Rooy war bereits ein Star in Bayreuth und Covent Garden, der 1898 an die MET kam. 1907 sang er den Jochanaan in der sensationellen Erstaufführung von Richard Strauss' "Salome"

Einspiel 7!

Einspiel 8!

Die 1903 erschienene "Columbia Grand Opera Series" war eine einmalige Zusammenstellung von Aufnahmen, deren Originale schon nach kurzer Zeit aus dem Katalog genommen wurden, was sie recht bald zu Raritäten werden ließ. Folglich stand man bei der Edition vor einem ernsthaften Problem: die Originale von wer weiß woher zusammenzutragen. Zum Glück für die Produzenten besitzt die New York Public Libary den vollständigsten Satz Originalplatten. Philip Miller, der einst die Musikabteilung der NYPL leitete, erzählt, welchem Umstand diese Tatsache zu danken war.

"Anfang der 50er Jahre kam eine Dame in die Musikabteilung und fragte, wie viel wohl einige alte Schallplatten wert seien, die daheim auf ihrem Dachboden lagen. Sie zeigt uns ein Exemplar des Prospektes zu "Grand Opera Series" und meinte, dies sei eine Liste dessen, was sie besäße. Ihr verstorbener Mann hatte um die Zeit, als die Aufnahmen entstanden, eine leitende Funktion bei Columbia inne. Man hatte ihn seinerzeit beauftragt, den kompletten Satz der Aufnahmen 1904 zur Weltausstellung in St. Louis zu bringen und ihn dort vorzustellen. Nachdem die Serie dort einen Grand Prix gewonnen hatte, wurde sie nach New York zurückgebracht, wo sie schließlich auf eben jenem Dachboden landete, ohne daß jemand sie noch einmal abgespielt hätte..."

Welch ein Glück! 1963 wurde die gesamte Sammlung erst einmal auf LP umgepreßt. Als man 1995 daran ging, diese empfindlichen Tondokumente zu digitalisieren, stand man erneut vor ungeheuren Schwierigkeiten, denn als die Columbia Phonograph Company 1902 in größerem Umfang mit der Produktion von Platten begann, steckte man ja noch in den Kinderschuhen. Daß die Tontechniker bereits 1905 es verstanden, die Singstimme mit einem überraschend großen Frequenzspektrum aufzuzeichnen, können wir spätestens bei der Aufnahme "Infelice" mit dem Bassisten Marcel Journet hören. Nur leider standen Künstlern und Technikern um die Jahrhundertwende nur akustisch-mechanische Verfahren zur Verfügung, die oft nur einen verzerrten Eindruck von den Aufnahmen vermittelten.

Im Sony-Musikarchiv fanden sich nur zwei originale Matrizen vor, so daß für die Wiederveröffentlichung größtenteils auf Schellack zurückgegriffen werden musste. Alle verfügbaren Exemplare der Platten wurden abgehört und zunächst mal kopiert. Ein mehrmaliges Abspielen der Platten auf einem normalen Grammophon aus den Jahre 1903 hätte die Rille unweigerlich zerstört. Die am besten erhaltenen schließlich wurden dann zusammengetragen und in der vorliegenden Form veröffentlicht.

Hören wir zum Abschluß dieser Phase noch zwei Beispiele. Zunächst den Bassisten Marcel Journet mit der Arie "Infelice! E tu credevi" aus Verdis "Ernani" in einer Aufnahme vom 23. Januar 1905. Der Name des Pianisten ist unbekannt. Im Anschluß daran hören wir den belgischen Geiger Eugene Ysaye, am Klavier begleitet von Camille DeCreus.

Einspiel 9!

Einspiel 10!

Die Rubinstein-Edition der BMG Classics

Einspiel 11!Einspiel 11!

Vielleicht möchte jemand mal schätzen, aus welchem Jahr diese Aufnahme stammt? (rec. 18.04. 1928)!

Es gilt als sicher, daß Artur Rubinstein (der übrigens nichts mit dem russischen Pianisten und Komponisten Anton Rubinstein zu tun hat!) zwischen 1919 und 1925 für die US-Firmen Aeolian-Duo-Art und Ampico Panola eine Reihe von Aufnahmen für Klavierwalzen angefertigt hatte und daß er bereits um 1910 für das polnische Label "Favorit" eine 78er Platte eingespielt hatte.

Seine eigentliche Laufbahn als Schallplattenkünstler im wahrsten Sinne des Wortes jedoch begann 1928. In diesem Jahr überredete ihn Fred Gaisenberg, der als einer der Pioniere der damals neuartigen Aufnahmeverfahren gilt, zum Besuch der Grammophone Company in der Londoner Small Queens Hall. Er lud Rubinstein ein, die moderne Aufnahmetechnik auszuprobieren. Der kam, probierte und war hellauf begeistert! Mit den alten akustischen Verfahren habe das Klavier auf den Platten immer wie ein Banjo geklungen. Nun aber, so schwärmte er, mit dem neuen elektrischen Aufnahmeverfahren, besonders durch die Verwendung von Mikrophonen werde der "goldene Ton des Klaviers getreu wiedergegeben". Die eben gehörte Aufnahme wurde am 18. April 1928 im oben beschriebenen Studio aufgenommen.

Hören wir noch ein weiteres Stück mit Artur Rubinstein, aufgenommen im April 1937.

Einspiel 12!

Was sich die TELEFUNKEN von Anfang gutschreiben konnte, war die von den Tontechnikern des Unternehmens erzielte Tonqualität der TELEFUNKEN-Platten, die sich von der anderer deutlich abhob. Dieser Unterschied war nach Ansicht vieler Plattensammler selbst auf den zeitgenössischen Wiedergabe-Geräten hörbar, obwohl deren Wiedergabefähigkeit in bezug auf den erweiterten Frequenzbereich, die Detailgenauigkeit und die Tonfülle - Kriterien, für die die TELEFUNKEN-Aufnahmen damals berühmt waren - sehr beschränkt waren.

Als man im Zuge der Einführung der LP und der Verbreitung feinfühligerer Wiedergabegeräte das alte Material sichtete, stellte man fest, daß die ursprünglichen 78er Aufnahmen weit mehr Toninformationen in ihren Spuren enthielten, als zuvor vermutet worden war. Die Tontechniker der TELEFUNKEN erkannten die künstlerische und technische Qualität und gingen daran, anhand der alten Metall-Matrizen Analogtonbänder zu erstellen, die wiederum auf die LP übertragen wurden. Manche dieser Übernahmen klangen so frisch und modern, mit so wenig Störgeräuschen, daß sich die Käufer der LPs gar nicht gleich bewusst waren, daß sie alte Originalaufnahmen in den Händen hielten. Hören wir zunächst das französische Calvet Quartett mit der Scherzo aus Beethovens 1. Streichquartett in einer Aufnahme vom 23.November 1936.

Einspiel 13!

Ich möchte Ihnen jetzt eine Szene aus dem "Lohengrin" mit Franz Völker und Maria Müller vorspielen. "Das süße Lied verhallt". Wir befinden uns im dritten Akt. Zum ersten Mal seit ihrer Vermählung sind Elsa von Brabant und der namenlose Ritter allein und alles könnte so schön enden, wäre nicht Elsa, vergiftet durch die Niedertracht Ortruds von Telramund, schon ganz nahe der Grenze zu dem verhängnisvollen Fehler, den Namen des Geliebten und seine Herkunft zu erfragen...

Wir hören eine Aufnahme mit dem Orchester des Bayreuther Festspielhauses unter Heinz Tietjen vom 29. August 1936.

Einspiel 14!

An dieser Stelle wird es eine kleine Ausnahme geben, die soweit entfernt vom Thema gar nicht ist.

Zu den unbestritten großen Leistungen der damaligen TELEFUNKEN Platten GmbH gehörte ihr Engagement für die zeitgenössische Musik eines gewissen Kurt Weill, der gemeinsam mit Bert Brecht so ungewöhnliche wir bedeutende Stücke wie die "Dreigroschenoper" oder die Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" hinterließ.

Natürlich - sie hätten ihren Weg in die Musikgeschichte sowieso angetreten. Als man sich am Morgen des 7. Dezember 1930 im Berliner Studio der TELEFUNKEN für eine vier Schellackplatten umfassende Aufnahme der Lieder aus der "Dreigroschenoper" traf, da waren sie schon in aller Munde, das Stück hatte längst seinen Siegeszug über die Deutschen Bühnen angetreten. Um so wichtiger aber ist ein Dokument wie das nun folgende, enthält es doch Weill-Songs aus berufenem Munde: Lotte Lenja, die Frau des Komponisten. Hören wir zunächst zwei der Lieder, die zu singen niemand so imstande war wie die Lenja selbst: die "Seeräuberjenny" aus der"Dreigroschenoper" und den Song "Denn wie man sich bettet" aus Mahagonny. Letzterer wurde bereits im Februar 1930 aufgenommen.

Einspiel 15!

Einspiel 16!

Als mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland der Exodus für tausende Künstler begann, waren viele darunter die für immer verstummten. Schicksale wie das des Schauspielers Kurt Geron, der 1941 in Holland in die Hände der Nazis geriet und nach Zwischenstationen in den Lagern Westerbork und Theresienstadt schließlich in Auschwitz umgebracht wurde - diesen Schicksalen ist dank solcher Aufnahmen ein ewiges Denkmal gesetzt.

Die "Historic"-Serie der DECCA

Die DECCA veröffentlichte Anfang der 90er Jahre in ihrer "Historic"-Serie Aufnahmen, die den höchsten Standard der Aufnahmetechnik zwischen dem Ende der 40er Jahre und dem Beginn der Stereophonie gegen Ende der 50er Jahre. In diesem Zeitraum war das Aufnahmeteam der DECCA ohnehin als führend anerkannt.

Bei der Wiederveröffentlichung dieses Materials machten es sich die damit beauftragten Tontechniker zur obersten Prämisse, eine möglichst genaue Annäherung an den ursprünglichen Klang des Bandes zu erreichen. Man ging sogar soweit, die charakteristischen akustischen Merkmale des Originalaufnahmegeräts nachzubilden, man konsultierte die damaligen Toningenieure. Natürlich wurde, um die Auswirkungen von Bandschäden zu mindern, Digitaltechnik eingesetzt. Dennoch wurden die Filtermethoden vermieden, wie sie bei vielen anderen Übertragungen historischer Aufnahmen eingesetzt wurden. Auf die übliche "noise reduction", die Verminderung des Rauschpegels, wurde verzichtet, da solche Verfahren nicht nur das Hintergrundrauschen, sondern auch die Klangpräsenz reduzieren.

Lisa della Casa, Richard Strauss, Vier letzte Lieder, (Mono). Die folgende Einspielung entstand 1953 und ist unter dem künstlerischen Aspekt in doppeltem Sinne "historisch", ja "authentisch" zu nennen. Zum einen wählte Lisa della Casa gemeinsam mit dem Produzenten Victor Olof die Reihenfolge der Lieder so, wie sie der Komponist selbst bevorzugte: Beim Schlafengehen - September - Frühling - Im Abendrot. Strauss schrieb die Lieder 1947 nicht als geschlossenen Zyklus. Sie wurden 1950 in einer Reihenfolge veröffentlicht, die einen zyklischen Zusammenhang suggeriert: Frühling - September - Im Abendrot - Beim Schlafengehen.

Der zweite Grund für die genannte Authentizität liegt in der Interpretation der Lieder durch Karl Böhm, die die Lieder von jeglicher aufgesetzter Erhabenheit befreite, und die breiten Tempi, besonders beim "Abendrot" zurücknahm auf ein natürliches Maß, was die Schlichtheit dieser Lieder noch unterstrich, sie einfach menschlicher machte. Die Aufnahme entstand 1953 im Großen Saal des Wiener Musikvereins, Produzent war Victor Olof und Toningenieur Cyril Windebank.

Was die ganz persönliche Meinung betrifft - es gibt für mich keine schönere, wahrhaftigere Einspielung dieser vier letzten Lieder.

Einspiel 17!

Einspiel 18!

Die Reihe "Prima Voce" des NIMBUS-Labels

Einen ganz und gar anderen Umgang mit historischem Material pflegt das kleine Label Nimbus, das im walisischen Wyaston Leys beheimatet ist. Ich denke, es empfiehlt sich, eingedenk meiner eingangs gemachten Vorbemerkungen zum Motiv der Beschäftigung mit historischen Aufnahmen, einige Worte über die Leute zu verlieren, die hinter diesem Markenzeichen stecken.

Es beginnt wie ein Märchen: Es war einmal ein englischer Graf namens Numa Labinsky, dessen Herz nur für die Musik schlug. Und weil er soviel Geld hatte, gründete er eine Plattenfirma und baute direkt neben sein Landhaus eine ziemlich große Konzerthalle. Da er selbst am liebsten sang, nahm er unter dem Künstlernamen Shura Gehrmann gleich ein paar Platten mit den großen Liederzyklen von Schubert wie "Die schöne Müllerin", den "Schwanengesang" oder "Winterreise" auf.

Daß er dafür von der Kritik heftig gewatscht wurde tat seinem Enthusiasmus und seinem Geschäftssinn keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil - mit der Geburt der CD kam sein Label so richtig in Schwung.

Nun hängen bestimmte Entwicklungen immer an bestimmten Leuten mit besonderen Vorlieben und Fähigkeiten. Einer von ihnen ist Norman White, passionierter Plattensammler, Liebhaber alter Stimmen und ein Pedant dazu. Vor gut 11 Jahren, also zu einer Zeit, da mit der Entwicklung der CD auch der Markt an historischen Aufnahmen sehr schnell gesättigt zu sein schien, kam Norman White in den Sinn, daß man jetzt endlich mal die alten Stimmen in der richtigen Art und Weise, in ihrem ursprünglichen Glanz präsentieren müßte. Er schuf eine Serie, die dem Label recht bald zu höchster Anerkennung verhalf: "Prima Voce", eine reine Sänger-Reihe, zu deren Stamm Namen wie Enrico Caruso, Fjodor Schaljapin, Alexander Kipnis, Lotte Lehmann oder Rosa Ponselle gehören. Bevor wir auf die Besonderheit der Prima Voce kommen, möchte ich Ihnen ein akustisches Beispiel geben. Wir hören Rosa Ponselle mit der Arie der Tosca "Vissi d'arte" aus dem 2. Akt (Tosca geht bis zum Äußersten: auf Knien bittet sie Scarpia um Gnade für Cavaradossi. ...) in einer Aufnahme von - aber hören wir doch erst einmal...

Einspiel 19!

Diese Aufnahme stammt übrigens sage und schreibe aus dem Jahre 1919! Zum Vergleich möchte ich Ihnen meine Lieblingsaufnahme vorstellen, Maria Callas, 1954. Leitung Victor de Sabata.

Einspiel 20!

Doch kehren wir zurück zu Frau Ponselle, aufgenommen im Jahr 1914! "Kunststück", wird mancher denken. "Bei den technischen Möglichkeiten heutzutage - so was wird doch alles über Computer gemacht..."

Aber damit liegt man im besonderen Falle "Prima Voce" grundfalsch. Die Diskussionen über die geeignetste Form der Wiederaufarbeitung historischen Materials im allgemeinen und der Schellackplatten im Besonderen machte natürlich auch um das Studio in Wales keinen Bogen. Computerprgramme, mit denen das Knacken und Rauschen der alten Aufnahmen herauszurechnen ist, kannte man freilich auch hier. Gleichwohl war man sich einig: dem sog. "noise-shaping fallen immer auch bestimmte, für die Stimme durchaus charakteristische Frequenzen zum Opfer. Und jetzt traf man im Sinne zahlreicher Liebhaber eine folgenschwere Entscheidung: Verzicht auf digitale Überarbeitung des Schellack-Materials, statt dessen konsequentes und bewußtes Ausnutzen aller akustischen Reserven der Original-Tonträger. In Kurzform: Originalklang statt Computerprogramm, "Rerecording" statt ".Remastering" Wie darf man sich so etwas vorstellen?

Die Original-Schellackplatte wird abgespielt, wobei Norman White für das Abtasten der von ihm handverlesenen kostbaren Originale ausschließlich Dorne aus Holz verwendet, weil diese vielmehr Klang aus den Rillen holen als die Stahl- oder gar die extrem harten Diamantnadeln. Darüber hinaus werden die Platten schonender behandelt. Nebenbei gesagt: Norman Whites größter Aufwand im Vorfeld besteht darin, die richtigen Originale zu finden. Die besten Schellack-Exemplare, sagt er, kommen aus den USA, weil hier ein besseres Material zur Schellack-Herstellung verwendet wurde. In England, so bemängelt er, wurde noch ein Billigpulver beigegeben, was zwar die Haltbarkeit der Platten verlängerte, zugleich aber auch für mehr Oberflächengeräusch sorgte.

Zurück zur Aufnahme. Der Ton, der also jetzt von der Holznadel warm und optimal schwingend übertragen wird, gelangt in einen Trichter gigantischen Ausmaßes: sechs Meter lang, im Durchmesser 2 Meter mit dem bezeichnenden Namen "Saddam". Diese Apparatur wurde in einem eigens dafür gebauten Konzertsaal installiert, in dem auch Platz für 500 Zuhörer ist. Und nun geschieht, was bei jeder Aufnahme geschieht. Ein Arrangement digitaler Ambisonic-Mikrophone, wie sie bei Nimbus für jede Aufnahme verwendet werden, fängt den Schall auf. Das Signal wir gespeichert. Punkt. Die einzige Rechenaufgabe für den Computer besteht dann noch im Editieren der verschiedenen Aufnahmen und dem Entfernen von Knackgeräuschen, wie sie etwa von den Holzdornen verursacht werden. Es liegt wahrscheinlich in der Natur der Sache, daß auch dieses Verfahren nicht den uneingeschränkten Zuspruch aller findet. Mancher ist der Meinung, daß für solche Bearbeitungen nur Aufnahmen in Frage kommen, die der "akustischen" Phase entstammen, also jener Zeit, da Musiker und Sänger noch in den Trichter spielten und sangen - alle gleichzeitig in einen!. Diese "akustische Phase" wurde durch die "elektrische Aufnahme Mitte der zwanziger Jahre abgelöst.

Norman White selbst räumt ein, daß dieses Verfahren die Klangbreite orchestraler Aufnahmen nicht alle Details wiedergeben kann, was aber die "Konservierung" der Schellack-Stimmen angeht, so gibt es für ihn keine Alternative. Der Erfolg, den die "Prima Voce" in den nunmehr 10 Jahren ihrer Existenz hat, scheint ihm recht zu geben.

Hören wir eine Aufnahme mit Enrico Caruso: "Forse la soglia attinse..." aus Verdis "Maskenball. Der englische Gouverneur Ricardo liebt Amelia, die Gattin seines Sekretärs und Freundes Renato. Sie erwidert seine Liebe. Aber um der Freundschaft willen entsagt Ricardo seiner Liebe. In der Arie beklagt er seinen Schmerz darüber, daß er die Geliebte niemals wiedersehen soll. Caruso nahm die Arie am 27.12.1911 auf. Einspiel 21!

In der folgenden Gegenüberstellung möchte ich Ihnen gern den frappierenden Unterschied demonstrieren, der zwischen dem "üblichen" digitalen Remastern von aufnahmen und dem Verfahren, wie es bei Prima Voce gehandhabt wird.

Ich habe Ihnen dazu zwei Aufnahmen des schwedischen Tenors Jussi Björling herausgesucht. Prima Voce hat sich einer Aufnahme aus dem Jahre 1934 bedient und sie von einer originalen 78 rpm. Platte mit den oben beschriebenen Ambisonic Mikrofonen aufgenommen. Die zweite Aufnahme entstand 19 Jahre später, also 1953 und wurde 1999 digital remastered und im gleichen Jahr veröffentlicht. Gemeinsam ist beiden Aufnahmen, daß sie bereits mit dem Mikrofon gemacht wurden. Gemeinsam ist ihnen auch, daß es sich um die gleiche Arie handelt: Es ist der Beginn aus Mascagnanis Oper "Cavalleria rusticana". Der Soldat Turridu, eben aus dem Krieg zurückgekehrt, preist die Schönheit von Lola. Er will sie heiraten, aber Lola hat sich in seiner Abwesenheit für einen anderen entschieden...

Hören Sie selbst und bilden Sie sich Ihr Urteil, welche der beiden Aufnahmen Sie, was die Behandlung der Stimme betrifft, mehr anspricht. Ich werde Ihnen nicht sagen, welche der Aufnahmen ich zuerst spiele. Einspiel 22! und Einspiel 23!

Mercury Living Presence

Im Juni 1962 bauten ein paar amerikanisch sprechende Herren im ehrwürdigen Großen Saal des Moskauer Tschaikowski Konservatoriums ein paar eigenartige, schwergewichtige Maschinen auf, schraubten ein paar Mikrofone auf den Ständer und warteten auf das Staatliche Volksorchester Osipov. Die Instrumente, die die Orchestermitglieder in den Händen trugen waren - Balalaikas. Die erste Aufnahme die je in der Sowjetunion mit Hilfe eines amerikanischen Aufnahmeteams entstand. Aber deshalb spiele ich Ihnen diese Aufnahme nicht vor. Ich komme hiermit zu einer weiteren Spielart des Aufnehmens und Wiederveröffentlichens. Einspiel 24!

Es war eine überraschende Entwicklung in der Welt des high fidelity (Klangtreue)sound, als Mercury Records im Jahre 1952 die "Bilder einer Ausstellung" mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Rafael Kubelik veröffentlichte. Das berühmte Orchester hatte noch nie so geklungen, wie auf dieser Platte, dank einer abenteuerlichen neuen Aufnahmemethode.

Das Anhören der Platten war, wie der Kritiker Howard Taubman von der New York Times" schrieb, als ob das Orchester selbst anwesend wäre. "Living Presence" nannte daraufhin Mercury Records seine Serie.

Mit der neuen Aufnahmetechnologie entstanden 350 Aufnahmen in 17 Jahren. Bob Fine, auf den diese Technologie zurückging, hatte ganz bestimmte Vorstellungen davon, wie ein Orchester klingen müsse. Die herkömmliche Methode der Plattenaufnahme war (und ist es oft heute noch), verschiedene Mikrophone bei den einzelnen Instrumentengruppen zu platzieren.

Fines Auffassung nach müsste in einem wirklich guten Saal ein einziges Mikrophon (für den Mono-Klang), später dann drei für die Stereoaufnahme ausreichen, um den wahrhaftigen Sound einzufangen. Dieser Grundidee folgend, entwickelte Mercury seine Aufnahme-Philosophie(!). Sie war im Grunde sehr einfach. Die entscheidenden Kriterien, nach denen Fines Höhe, Winkel und Position jedes der drei Mikrophone bestimmte, waren

  1. die Orchesterstärke,
  2. die Größe und physikalischen Charakteristika des Aufnahmesaales und schließlich
  3. die Art des Stückes, das zur Aufnahme gelangte.

Dies berücksichtigend entschied dann der Aufnahmeleiter die genaue Platzierung.

Das Orchester behielt für die Aufnahme die gleiche Sitzordnung bei wie zu den Konzerten. Der Mikrophon-Output wurde direkt auf einem 3-spur-Band festgehalten. Zuvor wurde ein Level-Check gemacht, bei dem das Orchester die kräftigsten Stellen spielte.Das Orchester behielt für die Aufnahme die gleiche Sitzordnung bei wie zu den Konzerten. Der Mikrophon-Output wurde direkt auf einem 3-spur-Band festgehalten. Zuvor wurde ein Level-Check gemacht, bei dem das Orchester also die kräftigsten Stellen spielte.

Danach und das ist das besondere lag die Kontrolle der Balance, also wie stark welche Instrumente zu hören sind, nur noch in der Hand des Dirigenten und seines Orchesters! Keine elektronische Begrenzung, kein eaqualizing, kein Mixen aus verschiednen Aufnahmesessions. Gerade letzteres war ein entscheidender Grund für viele Künstler, zu Mercury zu kommen.

Extra Mikrophone wurden nicht verwendet, selbst bei der Aufnahme von Solokonzerten und Opern!

1961 dann verfeinerte Mercury seine Technologie, indem es das 3SpurBand durch einen 35 mm Magnetfilm ersetzte. Breitere Spuren, schnellere Geschwindigkeit. Eine größere Frequenzbreite und damit eine naturgetreuere Aufzeichnung.

In der Finalproduktion wurde dann das Band umgeschnitten auf ein Zweispurband das der Vinyl-Plattenpressung zugrunde lag.

Für die Wiederauflage der Vinyls als CD wurde jedoch nicht dieses Zweispurband verwendet - es wäre so einfach gewesen. stattdessen wurden die alten Geräte wieder flottgemacht: das Ampex-Dreispurband und der Original Mercury-Vakuum-Röhren-Westrex-Film- Recorder! 128faches oversampling machte das Zusammenführen von alter Röhrentechnik und digitaler Aufzeichnung möglich. Und natürlich wurden, wo immer es möglich war, die Originalcover und - Liner Notes verwendet.

Als Beispiele für den tatsächlichen Wohlklang möchte ich Ihnen eine Aufnahme des 1. Satzes von Brahms' Erster Sinfonie vorstellen. Antal Dorati, einer der großen Dirigenten der 50/60er Jahre leitete die Aufnahme mit dem London Symphony Orchestra, die im Juni 1959 entstand. Ihnen wird so etwa in der Hälfte ein Schnarren auffallen, daß durch die tiefen Fagott-Töne im unisono mit den Kontrabässen entstand. Mit der neuen Technik wäre mancher Toningenieur vielleicht der Versuchung erlegen, sie digital "herauszuradieren". Es spricht für die Philosophie von Bob Fines, daß dieser Versuch unterblieb im Sinne eines einmaligen Orchesterklanges und beherzter Interpretation: Einspiel 25!

Das Experiment "Caruso 2000"

Abschließend möchte ich Ihnen ein Dokument über ein Experiment besonderer Art vorführen, ein Experiment, welches eine sehr unterschiedliche Resonanz stieß, ja sogar die Frage nach seiner Legitimität aufwarf.

Quasi als Gewissensfrage wurde und wird im Lager der "Puristen", der Liebhaber alter Aufnahmen und Stimmen darüber diskutiert, inwieweit ein solches Experiment sinnvoll, ja statthaft ist.

Wir kehren deshalb noch mal in das Jahr 1911 zurück und schlagen zugleich eine Brücke in das Jahr 2000.

Der Gegenstand dieser Debatte ist, und viele von Ihnen werden bereits davon Kenntnis haben, das Projekt "Caruso 2000", das BMG Classics am Ende des vergangenen Jahres veröffentlichte, und das insbesondere bei den Caruso-Fans ein geteiltes Echo fand. Bezeichnenderweise aber standen gerade sie auch gar nicht im Mittelpunkt des Interesses der Marketings. Mit "Caruso 2000" sollten ganz andere Interessenten- oder besser: Käuferschichten erreicht werden. Die Zahl von 40.000 verkauften Exemplaren spricht immerhin dafür, daß dieses Konzept, wie umstritten es auch sein mochte, aufgegangen ist! Mit einer normal remasterten Caruso-Platte, dessen Repertoire ohnehin fast gänzlich bereits auf CD erschienen ist, hätte man heutzutage vielleicht eine Stückzahl zwischen 400 und 600 deutschlandweit verkauft!

"Caruso 2000" - so der Name der Platte, der zugleich für ein Konzept steht, das in dieser Form bislang seines gleichen suchte. Was nun steckt hinter diesem Projektnamen?

Um es in aller Kürze zu sagen: aus einer Aufnahme mit Solist und Orchester, wird letzteres, dieweil es als störend empfunden ward, vermittels der Computertechnik aus der Aufnahme "herausgerechnet" und später durch ein modernes Orchester ersetzt, welches synchron zur übriggebliebenen Stimme den Orchesterpart neu einspielt.

Natürlich hat der Vorgang, der hier nur so knapp skizziert wurde, eine Vorgeschichte und natürlich war er viel komplizierter. Deshalb wollen wir noch ein bißchen dabei verweilen.

Aber hören wir zunächst mal etwas von dem, über das wir hier reden. Sie erinnern sich noch an unser letztes Hörbeispiel?

Hier nun also das gleiche Stück mit folgenden Daten:

Aufnahme der Stimme: 27.12.1911, Aufnahme des Orchesters: Mai 1999 Einspiel 26!

Möglicherweise haben Sie bei sich selbst oder im Freundeskreis die Erfahrung schon gemacht, daß bei historischen Aufnahmen mit Sängern und Orchestern das Mißverhältnis zwischen dem relativ klaren Klang der Stimme und der sehr näselnden Tonfarbe des Orchesters, das zudem noch aus der letzten Kellerecke zu kommen scheint, zu groß, ja eigentlich inakzeptabel scheint.

Gerade bei den Aufnahmen mit Enrico Caruso wurde diese Diskrepanz beklagt.

Nun ist, und da muß ich die Bemerkung von der Einmaligkeit des Versuchs etwas relativieren, dies bereits der zweite Anlauf, die alten Aufnahmen mit Caruso zu "verbessern", oder zu "modernisieren". Bereits 1927 und 1932 gab es Versuche, eine Symbiose aus dem Gesang Carusos, den originalen Orchesterklängen und einer - damals - neuen Begleitung. Bei den 1932 durchgeführten Bearbeitungen wurden die Einleitungen und längeren Orchesterpassagen ausgeblendet und durch "modernes" Orchester eingespielt. Die so entstandenen Aufnahmen allerdings wollte nicht so recht zusammenpassen. Ein klangliches Patchwork, das jemand so beschrieb: "Es ist, als stecke man das Bild eines alten Meisters in einen Rahmen aus Chrom." Nach gut drei Dutzend solcher Bearbeitungen wurde das Projekt fallengelassen.

So gesehen ist das "Caruso 2000"-Projekt das erste erfolgreich abgeschlossene seiner Art.

Bevor wir noch zu weiteren Einzelheiten kommen, an dieser Stelle wieder ein paar Takte Musik.

Das "Domine Deus" aus der "Petite Messe Solonelle" von Gioacchino Rossini" nahm Caruso 16.09.1920 in Camden auf. Im Vergleich zu der vorhin gehörten Aufnahme hat sich der Abstand von Original und Nacharbeit um fast 10 Jahre verringert, ein Umstand der deutlich hörbar wird.

Enrico Caruso mit dem Wiener Radio Symphonie Orchester unter der Leitung von Gottfried Rabi Einspiel 27!

Was ist nun im einzelnen passiert? Durch eine Computer-Adaption und Voice Seperation wurde die Stimme Carusos zunächst "befreit" von den alten Orchesterklängen. Was sich hier in einem Satz sagen läßt, waren Vorgänge, die mehrere Wochen dauerten. Zunächst waren die Eigenheiten der Abtastung der akustischen Schellackaufnahmen zu beachten, die verschiedenen Verrundungsradien der einzelnen Abtastnadeln, die dafür notwendig sind bis hin zu den unterschiedlichen Geschwindigkeiten. 78 U/Min. war zu Anfang des Jahrhunderts nur ein Näherungswert. Geschwindigkeiten von 72 bis 82 U/Min. durchaus üblich. Sogar bis zu 92 U/Min. waren möglich. Das Ergebnis dieser Abtastung wurde direkt in den Computer eingespeichert und nun mit einer geeigneten Software bearbeitet. Am Ende dieses Prozesses kam dann der pure Gesang Carusos ohne - oder zumindest fast ohne - Orchesterbegleitung und ohne das Rauschen und Knacken der Originale.

Aber das war erst die Hälfte des zu Leistenden. Jetzt waren musikalische Probleme besonderer Art zu bewältigen. Zunächst mußte die Stimmung des gesamten Orchesters, die derzeit bei 443 Hertz liegt (Kammerton a), auf 438 Hertz gesenkt werden. Im Allgemeinen schon ein schwieriges Unterfangen. Im Falle der benötigten Orgel jedoch unmöglich - dafür wurde ein Synthesizer verwendet. Gleichzeitig mußte das Notenmaterial präpariert werden, Transpositionen angefertigt und etwaige Eigenheiten in Carusos Interpretationen vermerkt werden. Darüber hinaus wurden bei einzelnen Titeln mehrere instrumentale Takte ergänzt. Schließlich wurde das ganze Orchester inklusive Dirigent unter Kopfhörer gesteckt, in die die Musiker Carusos Stimme gespielt bekamen, um synchron musizieren zu können - eine Praxis, die für viele eine Herausforderung darstellte, weil so etwas bislang ungewohnt war.

Hören wir an dieser Stelle noch einmal Caruso, diesmal mit der Arie "Je suis seul" aus der Oper "Manon" von Jules Massenet, bei der, wie vorhin beschrieben, die Orgel durch einen Synthesizer ersetzt werden mußte. Das Original stammt vom 27.12.1911.

Einspiel 28!

Soweit der Ausflug zu dem Experiment "Caruso", das auf eigentümliche Weise auch zu einer Schnittstelle zwischen Historie, Gegenwart und Zukunft geworden. Einer Zukunft freilich, die was den Umgang mit historischem Material doch für mancherlei Skepsis sorgt.

Um noch kurz bei dem Beispiel "Caruso" zu bleiben: ich denke, daß diese Skepsis nicht allein daher kommt, daß der Eindruck vom "Alten Meister im Chromrahmen" nicht ganz vom Tisch ist und das musikalische Patchwork erkennbar bleibt. Sie rührt m.E. auch daher, daß man eigentlich nicht bereit ist, sei musikalisches Gedächtnis so einschneidenden Korrekturen preiszugeben. Die erste Assoziation beim Erklingen der Stimme des großen Sängers ist doch: das war einmal - und es muß phantastisch gewesen sein. Die Abstriche, die man beim Anhören historischer Dokumente bereitwillig hinnimmt, die Diskrepanz zwischen dem tatsächlich Hörbaren und einem quasi "theoretischen Qualitätsideal" werden m.E. kompensiert durch die Summe eigener Vorstellungskraft, durch Erfahrungen, durch Wissen um bestimmte Fakten im Zusammenhang mit diesen Aufnahmen und schließlich - auch das scheint mir wichtig zu sein - durch ein Maß an Verklärung!

Im gleichen Maße, wie solche Projekte zur Verbreitung historischer Aufnahmen, großer Stimmen und großer Musik beitragen, entzaubern sie auch! Das ist natürlich nur meine Meinung, die ich aber insofern ergänzen möchte, daß ich sage: es wäre den Werken angemessen, wie es den Künstlern und Technikern gegenüber nur gerecht wäre, ihre Leistungen von einst zu akzeptieren, sie anzuerkennen. Unser Interesse unsere Begeisterung wären in guter Gesellschaft mit dem Respekt.

Das Bedürfnis, es besser zu machen, sollte ein Aspekt der Gegenwärtigkeit bleiben, ihrer unseren Verhältnissen adäquaten Weise zu verbreiten und dem Bereich des Vergangenen Ruhe angedeihen zu lassen.

Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit!

 

©Thomas OttoMail an den Autor!Zu Thomas Otto!
Zur Startseite vonKlangkontext!Mail an Jürgen Trinkus!Boltenhagen-Veranstaltungen, für die jt verantwortlich ist.
Erstellt am 19.12.2001Zuletzt geändert am 05.01.2002 19:18