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(...) TASTWEGE ist ein Kammerkunstwerk. Jede Skulptur Hat die Chance, ernst genommen zu werden. Der Besucher kommt der körperhaften, oft schwierig zu fassenden Bildhauerkunst in völliger Dunkelheit näher, so nahe wie in keiner anderen Kunstausstellung. Das menschliche Maß ist die Nähe. Ohne zu sehen, ohne zu hören, zu schmecken oder zu riechen, kann ein Mensch durchaus selbständig sein, er kann sein Leben genießen, zumindest eingeschränkt. Ohne die haut, den Träger des Tastsinns, ist niemand lebensfähig, und dies nicht allein aus medizinischen Gründen. Das Tasten ist die ursprünglichste form unserer Welterkenntnis, wie uns jeder Säugling beweist. Jede körperliche Erfahrung im weitesten Sinne des Wortes wird zuallererst tastend gewonnen. Auch die Sehkraft, die Schärfe der Augen wird zunächst tastend geschult. (...) Gute Augen machen uns stolz, ein gutes Gehör desgleichen, guter Geschmack versteht sich von selbst. Die Empfindsamkeit unserer Hände bringt wenig Anerkennung, ganz im Gegenteil. Eine sensible Handbewegung, ein gedankenvolles, besinnliches Streicheln wird im besten Fall als ein Spleen verstanden. In unserem sozialen Milieu ist Tasten verpönt, verboten, spielt öffentlich kaum eine Rolle. Zugegeben, man gibt sich die Hand, umarmt sich sogar recht gern. Dies sind Gesten, keine Berührungen. Wer uns nahe kommt, bricht ein Tabu. Wer uns spürbar berührt, hat vielleicht eine Absicht, die uns unter die Haut geht. Das Tasten gehört ins private Feld unserer Zweierbeziehungen, dient unserer Selbstbedienung, vom Haare kämmen bis Schuhe putzen, samt aller Regionen dazwischen. Ansonsten: Hände weg, bitte nicht berühren, im Alltag nicht, nicht in der Kunst. Heute sind uns zahllose Tätigkeiten aus den Händen genommen. Um high-Tech-Produkte herzustellen, sind unsere Hände zu grob. Automaten und Roboter müssen sie ersetzen. Handarbeit heißt heute Kunstgewerbe, und das kommt aus der dritten Welt. Was uns zu tun bleibt, ist die Bedienung von einfachen Schaltern und Hebeln, das tägliche drehen am Lenkrad. Am wichtigsten ist die Beherrschung zahlloser Tastaturen am Ende der Datenleitung. Hier sind uns die Hände gebunden, um unser Wissen, das wir nicht fassen können, um unsere Illusionen abrufbereit zu halten. Als Trost sei Ihnen gesagt: wer seine Hände in diesem Sinne nur als ein Werkzeug versteht, benimmt sich, als wenn er den Augen die Schönheit, den Ohren Musik verwehrt. Die Kunst schafft uns Handlungsspielraum, sie erlaubt uns, die Hand zu gebrauchen, als ein sensibles, sinnintensives Tast- und Erfahrungsorgan. Unsere Hand ist die Mitte zwischen dem Kopf und dem leib, eine sensible Vermittlerin zwischen Geist und Stoff, sie ist, schrieb Immanuel Kant, unser äußeres Denken. Tastwege macht den Versuch, den Tastsinn sinnvoll zu nutzen, das Tasten als verschüttete Kulturtechnik neu zu entdecken. Denken und Handeln waren am Anfang der Menschheitsgeschichte eins, aus dem Begreifen der Dinge entwickelte sich Sprache, formte sich der Begriff. Was liegt näher, als Bildhauerkunst, die der Künstler aus der Idee mit seinen Händen geformt hat, mit unseren Händen zu fassen, um sie zu begreifen. Begreifen aber braucht Stille, Besinnung und Geduld. Wie kommt ruhe, Besinnung, Geduld in den Raum, der nichts als Skulpturen enthält? Ganz einfach: wir machen das Licht aus. Das Sehen ist heute ein so dominanter Sinn, daß der Tastsinn nur eine Chance bekommt, wenn wir den Augen die Fähigkeit nehmen, Dinge wie im Fluge, oberflächlich, doch schnell, effektiv, aus der Distanz zu erkennen. […] Wie tasten wir überhaupt, wie nähern wir uns tastend der unsichtbaren Kunst? Alles Entdecken, jede Erfahrung beginnt auch hier mit dem Sammeln, dem sammeln von Eindrücken, Informationen. Information aber ist nichts anderes als in Formen gefaßte Erfahrung. Im besten Fall ist sie faßbare Form, greifbare Wirklichkeit oder ein Stück davon, lateinisch Skulptur genannt. Tasten geschieht sequentiell, unsere Hand nimmt Stück für Stück, Kante für Kante des Körpers wahr, und baut daraus die Skulptur als inneres Bild wieder auf. Wenn sie wollen, geschieht das Tasten auf eine ähnliche Weise wie das elektronische Scannen. Beim Scannen werden einzelne Bildpunkte nach ihrer Helligkeit abgetastet, Beim Scannen mit der Hand sind es Tastwerte, Tastqualitäten. […] Jede Skulptur trägt ein Zeichen, das im Künstler wie im Betrachter bereits vorhanden ist. Das Kunstwerk ist nur Vermittler, Anreger eines Prozesses, der beim Begreifen beginnt. (...) Die wichtigste Erfahrung, die jeder von ihnen tastend erlebt, ist eine sinnlich sehr alte, und immer wieder neue. Es ist die Wiederentdeckung des Fingerspitzengefühls. Ich taste, also ist Wirklichkeit. (...) in dieser Dunkelausstellung wird durch Erfahrung und Selbsterfahrung ein unausschöpfliches Reservoir an persönlichem Kunstverständnis, an handhabbaren Sinneseindrücken gewonnen, Eindrücke, die ihren Ausdruck suchen und finden werden, im Gespräch, in der Reflexion oder im stillen Bedenken. Die Wendung zur Kunst in aller Stille wäre ganz sicher das wesentlichste Ergebnis. Das Ziel kann nur ein empfindsames Selbst-Bewußtsein sein, das seine Hände behutsam ausstreckt, Nicht um zu manipulieren, sondern um zu empfinden. Bernd Kebelmann, Waltrop und Kiel, zum 12. August 2003 |
| Das Konzept | Tastwege-Termine | Kurator Bernd Kebelmann | Beteiligte und Partner |
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| Erstellt am 19.08.2003 | Zuletzt geändert am 29.08.2003 | Mail an den Seitenautor: Jürgen Trinkus! |