Sieben Vorspiele zu einem Nachruf

 

II

Eifrige Schüler sind angekommen. Voller Ehrfurcht treten wir in die Tempel der parlamentarischen Vertretungsdemokratie. Hatte die nicht schon Male des Überdrusses gezeigt? Für uns ist sie gut genug. Was sonst? Bei dieser Herkunft! Da müssen wir auch erst mal hineinwachsen, in diese "Demokratie für Analphabeten" (Robert Jungk). Wir geben unsere Stimme ab. Wir machen ein paar Kreuze und empfehlen uns den Machern.

Wieder mal zu kurz gezielt und noch kürzer gesprungen? Es war aber kein Platz für längeren Anlauf. Wem der Boden unter den Füßen wegrutscht, dem ist das Naheliegendste noch fern genug. Entgegen anders lautenden Legenden war der Herbst 89 geistig kaum vorbereitet. Die DDR hat schon in ihren romantischen Anfängen ihr Organ fürs Neue, wie Bloch einmal die Utopie genannt hat, ausgetrocknet und ausgebrannt. Wem es nicht mehr paßte, der konnte gehen, wenn es nicht mehr ging mit ihm. Der war dann eben hinüber.

Hinüber war auch einer, an den ich mich noch als FDJ-Organisator erinnere, ehrgeiziger als wir anderen alle. Zuletzt war er still, nachdenklich und zurückgezogen. Er hatte Gdansk (heute sagt man wohl wieder Danzig) im Sommer 81 erlebt. Vor den Toren der Lenin-Werft zogen ihn Arbeiter in ihre öffentlichen Angelegenheiten. Wo gab es so was in der dämmrigen DDR? Eine ganze Propaganda war der Verleumdung überführt durch eigenen Augenschein. - Endlich konnte man reden mit M. Das war kurz vor seiner Forschungsreise nach Skandinavien. Von dort kam er nicht mehr zurück. Wenn der schon geht, hieß es bei uns, wem sollen die Hüter dann noch einen Paß anvertrauen können ohne Risiko? Und eine Legende machte die Runde.

Die hat sich jetzt bestätigt. Wie ich höre, ist unser Freund verhaftet. Sein Führungsoffizier hat ihn angegeben.

Verraten und verkauft. So empfinde ich das, obwohl: Vielleicht hat er auch über mich raportiert? Egal. Wir sind doch beide aus dem gleichen Nest gefallen.

Zur Pflege des Selbstmitleids sind die jahrtausendelangen Erfahrungen der mittelasiatischen Reiche, der ewig stürzenden Dynastien gut, wenn sie so schön formuliert sind, wie nur Brecht es vermag:

Wenn das Haus eines Großen zusammenbricht werden viele Kleine erschlagen. Die das Glück der Mächtigen nicht teilten, teilen oft ihr Unglück. Der stürzende Wagen reißt die schwitzenden Zugtiere mit in den Abgrund.

Wenn die Geschlagenen dann durchs Lager der Sieger getrieben werden, wird einer nicht unter ihnen sein: Eumelos, der Hüter der Sicherheit. Wohin wir immer kämen, dieser wäre schon da. Und würde über uns hinweggehn.

Christa Wolf hat diese Zeilen geschrieben. All die publizistischen Attacken, jetzt, wo wir alle klüger sein können als vor Jahresfrist, können nicht wegwischen, was Kassandra schaute und uns sagte.

Es war doch ausgeschlossen, so dachte ich ..., daß die reiche Fülle unseres Daseins auf eine störrische Behauptung gemindert werden sollte. Wir mußten uns doch bloß auf unsre Tradition besinnen. Wie war die aber? Worin bestand die doch? Bis ich begriff: In Helena, die wir erfanden, verteidigten wir alles, was wir nicht mehr hatten. Was wir aber, je mehr es schwand, für um so wirklicher erklären mußten. So daß aus Worten, Gesten, Zeremonien und Schweigen ein anderes Troja, eine Geisterstadt entstand, in der wir häuslich leben und uns wohlfühlen sollten.

 

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© by Juergen Trinkus 1990