Landessprache im Umkreis vergangener und heutiger Macht

Nicht nur Poeten - wir alle sprechen in Bildern.

Ich möchte mit Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, hineinhorchen in einige Sprachbilder aus dem Umkreis vergangener und heutiger Macht. Achten Sie einmal darauf, wie technisch es da zugeht.

Wer in der DDR in die Nähe eines dienstlichen Schreibtisches geriet, mußte mit der Floskel vertraut sein, dieses oder jenes werde "durchgestellt". In diesem Telefonistenjargon schwingt mit, daß der Übermittler nicht die Botschaft ist. Um "durchzustellen" brauchte es keine Gesinnung. Es genügte schon etwas Eifer. Verantwortung reduzierte sich in diesem Vorgang aufs bloße Funktionieren im Leitungsnetz.

Die einst "durchzustellen" hatten, werden jetzt "abgewickelt". Das ist kein Telefonistendeutsch. Das ist eine Sprachregelung für Konkursverwalter. Die Betroffenen kommen auf die "Warteschleife". Und woher stammt das Bild der Warteschleife? Warte mal... Ja, Flugzeuge.... Flugzeuge, die auf die Landeerlaubnis warten müssen, tun das auf der Warteschleife. Warten können sie, solange der Treibstoff reicht. Merke: Nicht der Absturz ist gefährlich. Nur der Aufprall.

Absturzgefährdet sind auch Bergsteiger. Um sich bei ihren Klettertouren besser zu sichern, bilden sie - na, was wohl? - "Seilschaften". Nur keine "alten Seilschaften"! Sind die neuen etwa besser? Macht vernetzt sich jedenfalls mit Macht, und sie erwählt sich ihre Aspiranten. Für alte Seilschaften sind schlechte Zeiten angesagt. Sehr alte Seilschaften sind da froherer Hoffnung. Diese Anspielung zielt auf die "schlagenden Verbindungen", die nun an die ostdeutschen Universitäten zurückkehren. Ihr Korpsgeist ist ganz unverhohlen darauf gerichtet, den gesellschaftlichen Aufstieg der erlesenen Kameraden zu sichern.

Mit den "alten Seilschaften" in der Wirtschaft fertig zu werden, sprich: das überkommene Beziehungsgeflecht zu zerschlagen, ist zu treuen Händen gegeben der "Treuhand". Sie soll nun bewerkstelligen, was weder "das Volk" noch "ein Volk" vermocht hatte, und womit sich die prestigebedachten Anwärter auf die Konkursmasse nicht ihre ehrenwerten Markennamen beschmutzen wollen, nämlich die Abtragung des morschen Überbaues. - - Moment mal, "Überbau"? Ist das nicht marxistische Terminologie, oder will sagen: Chemnitzer Dialekt?

Eigentlich ist ja der historische Materialismus, ja selbst der ökonomische Determinismus zu überzeugender Anwendung gekommen, gerade jetzt. Aber nicht durch die Linken, die sich in moralischer Zerknirschung zu üben haben, sondern durch jene anderen, die da ausriefen, "We are the Champions" und "Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt". "Im Frühstau zu Berge wir stehn, wallerah" und staunen, wie einträchtig sie einher kommen, das Kapital mit der Revolution. Von der Revolution war im verflossenen Mauerstaat überreich die Rede. Die Erziehung junger Revolutionäre war deklariert, und von den Journalisten, Künstlern, Gesellschaftswissenschaftlern, kurz, der "interpretierenden Klasse" des Landes wurden verbal so revolutionäre Tugenden verlangt, wie "bahnbrechende Kühnheit", "unerschrockene Risikofreude" und "schonungslose Kritik ohne Ansehen der Person".

Das sprachliche Ritual verfuhr mit den revolutionären Tugenden nicht anders als in der altchinesischen Fabel der Herr Hsi mit dem Drachen. "Herr Hsi war ein Liebhaber von Drachen. Deshalb ließ er die Wände seines Hauses mit Drachenbildern schmücken, und selbst in die Säulen ließ er Drachen eingravieren. Das freute den Himmelsdrachen, und er flog herab, steckte den Kopf zum Süd- und den Schwanz zum Nordfenster herein. Herr Hsi ward darauf vor Schrecken starr. Er war ein Liebhaber von Drachen. Er liebte sie, wohl auf Bild und Säule, nicht aber in der Wirklichkeit."

Ähnlich ging es vielen Philosophen mit den gesellschaftlichen Widersprüchen des Sozialismus. Mangelnder Mut zur Konsequenz - das haben sich viele DDR-Intellektuelle vorzuwerfen, auch ich.

Wußten wir nicht schon lange ein Vielfaches dessen, was zur Ab- und Umkehr nötig gewesen wäre? Oder hätten wir es nicht immerhin erfragen können?

Die westlichen Eliten haben in dieser Beziehung auch keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Auch sie wissen, daß es nicht so weiter gehen kann, daß der expansive Konsumerismus, der ihren Schornstein am Rauchen hält, ein auslaufendes Modell ist, uns das Wasser abgräbt, den Ast absägt, auf dem wir sitzen. Und welche Konsequenzen ziehen sie daraus?

Die Sprache wird gern benutzt, um zu verharmlosen, zu beschönigen, unliebsamen Konsequenzen auszuweichen. Politiker sind darin besonders geübte Leute. Der politische Sprachgebrauch der DDR war nicht nur voller Verklärungen, sondern auch voller Verkehrungen. Theoretisch wetterten wir beispielsweise gegen den Opportunismus, dem wir praktisch heillos verfallen waren. "Antifaschistischer Schutzwall" hieß jene triste Mauer, die in Wahrheit Stalinismus und Stagnation schützte.

An der Wismarer Bucht und anderen sensiblen Stellen der Küste wurde es 1988 gestattet, auch nach Einbruch der Nacht in der baltischen See zu baden. Schon das erlebten wir seinerzeit dankbar als Öffnung. Natürlich war Vorsorge getroffen. In der Düne ging abendlich ein Militärfahrzeug in Stellung, bewaffnet mit einem starken Scheinwerfer. Wenn der die See abtastete, wurde jeder Wellenkamm, jeder Schwan weit draußen sichtbar. Da, der Leuchtkegel erfaßt Badende, die gerade aus dem Wasser schreiten. In ihrer verspielten Nacktheit stehen sie plötzlich auf einer hell erleuchteten Bühne. Sich mit Händen vor Blicken schützend, stürzen sie kreischend bergendem Ufer zu.

Unumkehrbar ist dieses Bild nur noch Erinnerung. Im Jenseits liegt diese DDR. Andere Scheinwerfer kreisen seither. Ich meine die gierigen Sucher der bunten Gazetten, der nimmersatten Sensationsblätter. Wen sie fixieren, der steht nackt vor der Nation. Wen sie haben wollen, den kriegen sie - meist. Wenn sie wollen, machen sie dich fertig. Einladend lächelt die marktgerechte Journallie: "Du stehst vorm Abgrund, Gregor. Spring doch, Junge! Wir sind doch bei dir, und werden den Augenblick festhalten für die Agenturen, fürs Archiv, die Geschichtsbücher."

[Hier folgt eine passage, die zu meiner Verblüffung in der Sendung fehlte:]
Mich beschäftigt immer wieder der "Fall Tscherny". Wer weiß, läge er nicht so nahe beim Kanzler, vielleicht wäre auch er erledigt worden wie Bölls Romanheldin Katharina Blum. Die flächendeckende Metastasi vergiftet das Land noch in der Fäulnis ihrer Paralyse.
Ich frage mich zuweilen, warum ich nie eine Einladung erhalten habe zur Verstrickung in den Spitzelverein. Hatten sie meine Geschwätzigkeit bedacht? Wahrscheinlich war ich einfach zu brav. Ich pflegte keine vertraulichen Beziehungen zu Dissidenten, die man gerade observierte.

Manchmal denke ich: Vielleicht stünde ich erhabener da mit einer weniger armseligen Biographie. Wenn ich mich beispielsweise zu Robert Havemann durchgeschlagen hätte, zur Samistad-Presse oder zur Studienabteilung der evangelischen Kirche! Jetzt weiß man aber auch: Wer sich diesen observierten Kreisen näherte, geriet unweigerlich ins Kalkül der Staatssicherheit. Und die konnte ein unerbittliches Ultimatum stellen. Etwa so: Wenn du schon ungestraft bei unseren Feinden mittun willst, mußt du auch ein Stück weit unser Ohr und Werkzeug sein! Du hast die Wahl! Wir können dich auch außer Landes oder in den Persönlichkeitsruin treiben!

Wer sich nicht in solche realsozialistischen Konflikte hineindenken will, sollte meiner Meinung nach auch nicht rechten über Opfer, die zu Tätern wurden, und Täter, die sich als Opfer begreifen.

Viele, allzu viele wollen sich jetzt freischimpfen durch starke Verdammung der SED-Diktatur. Ich habe die auch erlebt als eine Diktatur des Durchschnitts über jedwede Abweichung. Ausgeübt wurde diese Diktatur der Mitte über die Ränder nicht nur von wenigen Verbrechern, sondern von vielen, sehr netten Leuten. Wer unter der Norm blieb, wurde damit zum störenden Erziehungsproblem. Wer außerplanmäßig zu gut sein wollte, störte erst recht die Ruhe, beileibe nicht nur der Oberen und Mächtigen.

In der Rückschau erkenne ich die sprachlichen Konventionen der Ideologie als die Rituale der Homogenisierung, der Herdenbildung.

Ich erinnere mich, wie mir bei einem Ratespiel im Schulhort kein Land mit "R" mehr einfiel. Da verkündete ich einfach "Rotchina". In aller Unschuld geschah das, und mir war gar nicht klar, warum die Erzieherin so erschrocken reagierte. Ich mußte erst begreifen, daß meine Verletzung der Sprachregelung ihr unmißverständlich anzeigte, daß ich unerlaubte Sender hörte, was sie in den 60er Jahren keinesfalls ungestraft durchgehen lassen durfte, obwohl sie zu Hause dasselbe tat. Aber, sie hielt eben sprachlich Disziplin. Dazu mußte sie auch mich erziehen.

Wir waren Mittelmaßbewohner und haben uns wechselseitig zur Konformität angehalten. Jetzt fällt es uns schwer, uns umzustellen darauf, gnadenlos erfolgreich sein zu sollen. Und eines der Normworte der neuen Landessprache heißt "beinhart". Aber wenn wir so nicht sein können, liebe Hörerinnen und Hörer? Und wenn wir so gar nicht sein wollen? Wie auch immer, ich wünsche Ihnen bei aller Nachdenklichkeit noch einen heiteren Sonntag.


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