Wir sind ein Volk

Eine bedeutende Hamburger Illustrierte, die nun auch hierzulande eifrig gelesen wird, hat uns gleich nach den Volkskammerwahlen eine schwerwiegende und leider wohl wahre Prognose gestellt, nämlich: Die Befreiung aus dem vormundschaftlichen Staat dauert lange. Die Psyche dieses Landes wird noch heilen müssen, wenn die Wirtschaft längst blüht.Quelle?

Im Herbst schallte dem vormundschaftlichen Staat der trotzige Ruf entgegen: Wir sind das Volk! Der Damm ist dann leichter gebrochen, als die Verzagteren unter uns zu ahnen gewagt hatten.

Bald änderte sich die Szene. In der neuen Lage skandierten die neuen Demonstranten: Wir sind ein Volk! Hätten sie die vorherige Betonung beibehalten, hätte das erstaunt geklungen: Wir sind ein Volk!

Was ist denn an uns Volk so erstaunlich? Vielleicht unsere Art umzugehen mit den abrupten, nie von einer inneren Mehrheit bewirkten Brüchen in unserer Geschichte. Das Leben geht eben immer weiter. Wir sind ein Volk!

Was nicht verarbeitet wird, das wird verdrängt. Verdrängtes quillt aber immer wieder aus der Tiefe.

Wir sind ein Volk! - das klagt Einheit ein. Gemeint war der Ruf als Aufkündigung der Ideologie von den zwei Staaten, zwei Nationen, zwei Völkern. Lange Getrenntes fiel sich schließlich in vorläufigem Freudentaumel in die Arme. Die neu gewonnene Nähe zu den vordem fernen Landsleuten jenseits der Grenze, der Demarkationslinie - Auch so ein hübsches Wortspiel: D-Mark-ation! - diese neu gewonnene Nähe zu den vorher fernen Nachbarn, hat sie vielleicht neue Distanzen geschaffen zwischen den Leuten hier? Die gewollte Einheit des Ostens mit dem Westen durch Zurücknahme des Epochenrisses, schafft sie nicht Risse anderer Art?

Wir sind ein Volk! - das war nicht so gemeint, aber ich möchte es beziehen auf die Leute hier, die Bewohner der alten DDR, die sich mitunter jetzt wie arme Eingeborene vorkommen angesichts der Weltläufigkeit der neuen Missionare. Gibt es eine Einheit zwischen Hasen und Igeln?

Unsere bisherige Art von Ökonomie hat uns kaum gezwungen, wie die Hasen zu laufen. Für die unter uns mit kräftigeren Sprungbeinen war das stets Behinderung und Verhinderung. Längst hatte sich ein starkes Bedürfnis angestaut nach Risiko, Ungewißheit und hohem persönlichem Einsatz. Da ist die Marktwirtschaft befreiende Verheißung weiter Möglichkeiten für die Beweglichen, die Unternehmungslustigen, Einfallsreichen. Aber die Igel unter uns? Jenes "Ich bin schon allhier!" hatte die alte Partei- und Staatsriege Gorbatschow entgegen gerufen, als er sich anschickte, Perestroika zu machen. Mit vollmundiger Pfiffigkeit allen wird hier keiner mehr Staat machen können. Was also wird aus den Igeln? So mancher, der sich jetzt als Hase gebärdet, wird bald einsehen müssen, daß er sich was vormacht.

Wie Krankheit der Psyche dieses Landes, von der in meinem Eingangszitat die Rede war, läßt sich u.a. beschreiben als ein zutiefst verunsichertes Selbstbewußtsein, als gestörte Identität. Geschüttelt von Selbstekel versucht der Patient aus seiner Haut zu fahren und ein fremdes Wesen anzunehmen. Vor sich selbst läuft natürlich niemand erfolgreich davon. Wende im Sinne von Kehre ist eben nur Wechsel der Vorzeichen. Die Pragmatiker zum Beispiel (Sie selbst nennen sich Realisten) bleiben, was sie waren. Nehmen wir jene Ökonomen, die jetzt ebenso eifrig die Marktwirtschaft predigen, wie dereinst die "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik", welche lautstark das Wohl des Menschen preisen ließ, der im Mittelpunkt stand (Natürlich wußten alle, welcher Mensch im Mittelpunkt stand). Viele unter uns waren überhaupt fähig, einer Sache zu dienen, an die sie längst nicht mehr glaubten. Deshalb vielleicht fällt es ihnen jetzt so beängstigend leicht, jene böse Karikatur auf Kapitalismus selbst zu praktizieren, die hier früher an die ideologische Wand projeziert worden war. Wahrscheinlich trauen sie sogar ihrer neuen Ideologie mehr, als sie der gerade abgelegten je vertraut hatten. Ich weiß es nicht. Freilich blamiert sich der Pragmatismus derer letztlich, die sich einst Ökonomen nennen ließen und nun von sich behaupten, daß sie im "Management" arbeiten. Er blamiert sich vor dem wirklichen Management, das unter anderem auch eine Kultur der Unternehmensführung kennt.

Manch ein westdeutscher Beobachter ist erstaunt, ja teilweise sogar schockiert über die primitive Roheit, die hier manche Leiter praktizieren nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus. Die brauchten sich gar nicht zu ändern. Sie hatten ihr Handeln immer nur "nach oben" auszurichten. Die Betroffenen unten sind ja nie wirklich wichtig gewesen. Ich glaube freilich nicht, daß Marktwirtschaft allein schon ein probates Heilmittel ist für die Landespsyche.

Die Marktwirtschaft feiert den Erfolgreichen. Für Verlierer hat sie ebenso wenig Platz, wie die Vogelfamilie für ein kränkelndes Junges im Nest. Werden wir alle also jetzt die Maske des stets Erfolgreichen überstreifen? Werden wir den mit Verachtung strafen oder mit obligatem Mitleid streifen, der es nicht schafft, der nicht mitkommt?

Es war doch bequem, für die Mißlungenheiten im eigenen Leben den Vormund, Vater Staat, objektive Umstände oder einfach die Anderen verantwortlich zu machen. Jetzt sind wir auf dem Weg in eine vaterlose Gesellschaft. Das heißt auch: Wir müssen mündig werden.

Werden wir also zurückverwiesen auf den Leitsatz des Bürgertums, Jeder ist seines Glückes Schmied!? Wer scheitert ist selber schuld! Er war eben nicht gut genug. Es hilft ihm nur, sich das nächste Mal mehr zu bemühen.

So wird mehr persönliche Energie freigesetzt, als das unter einer vormundschaftlichen Gesellschaftsverfassung möglich war. Doch wir sollten jetzt nicht aus einem protosozialistischen Extrem in ein anderes, vielleicht amerikanisches fallen, welches das Scheitern des Einzelmenschen zur Privatsache erklärt. So bequem sollte es den Gewinnern nicht gemacht werden, daß die Verlierer sich selbst aus Scham unsichtbar, unhörbar machen.

'Jeder ist seines Glückes...' An dieser Stelle erschlug das Pferd den Schmied.

ie Psyche dieses Landes wird noch heilen müssen, hieß es im "Stern", wenn die Wirtschaft längst blüht. Ich glaube nicht so recht, daß die Wirtschaft hier das Wunder vollbringen wird, für alle zu blühen. Igel bleiben Igel, und Pragmatiker bleiben Pragmatiker. Die Veränderbarkeit des Menschen hat ihre Grenzen und Schwierigkeiten. Opportunisten suchen sich neue Fahnen, die ihnen den Weg weisen sollen - und ich Träumer bleibe Träumer.

Ein Leitartikler Quelle? mahnt mich, eine Zeit des Aufbruchs sei keine Zeit für Utopien. Mir fallen da die Worte aus der Dreigroschenoper ein: Da hast du eben leider Recht, der Mensch ist gut, die Welt ist schlecht! Jetzt, so muß ich mir sagen lassen, ist die Stunde der Pragmatiker. Da hast du eben leider Recht. Diener der Macht bleiben Diener der Macht, und Oppositionelle sind rasch wieder in der Opposition. Auch Marxisten, die ihren Marxismus von seinem humanistischen Ansatz her verstanden hatten, sind wieder unter sich, seit sozialistisch-kommunistische Bekenntnisse nichts mehr einbringen. Eine Minderheit war im Herbst ausgezogen, einen Traum einzuklagen, den Traum von einer ehrlichen, mündigen verantwortungsbewußt solidarischen Gesellschaft. Ich glaube, es ist für uns ebenso wichtig, den Kopf in den Wolken zu haben, wie die Füße auf dem Boden der harten Tatsachen. Allein ist dafür keiner lang genug. Der Kopf mag die Füße vergessen. Die Füße mögen den Kopf nicht für nötig halten. Zusammen gehören beide trotzdem.

Ich gebe die Vorstellungen der amerikanischen Ethnologin Margaret Mead zu bedenken, die sie Ende der 20er Jahre niederschrieb: Gesellschaftsordnungen werden am Leben erhalten, entwickelt und erweitert durch Menschen, die von ihrem Geist sind. Durch neue Abmachung und neue Programme, die in Not und Rebellionen von denen ausgearbeitet werden, die in ihrer eigenen Kultur keine geistige Heimat finden, werden sie untergraben und verdrängt. Auf der ersten Gruppe liegt die Last, ihre Gesellschaftsordnung zu erhalten und ihr vielleicht eine noch bestimmtere Form zu geben. Auf den Begabten unter den Nichtangepaßten liegt die Last, neue Welten aufzubauen. Es ist klar, daß von dem Gleichgewicht innerhalb dieser Typen ein Teil des Geschicks der Kultur abhängt. Ohne Verteidiger der bestehenden Ordnung und ohne Verfechter neuer Formen der gleichen Ordnung ist eine Gesellschaftsordnung führungslos und versinkt in Dumpfheit und Mittelmäßigkeit.

Wir sind ein Volk - wir sind ein Volk mit DDR-Geschichte im Blut. Das wäscht kein Artikel 23 ab. Uns prägen eigene Erfahrungen und Interessenlagen, sicher noch lange. Deshalb meine ich: Die Psyche dieses Landes wird nicht zu heilen sein, wenn wir uns selbst das Gehirn herausreißen (sprich: die Wissenschaftler und Künstler unseres Stammes vertreiben) und die eigene Zunge abschneiden (sprich: die Medien im Stich lassen, die auf hiesigem Boden stehen).

Solange wir uns ihr ganz stellen, gibt es kaum eine Situation völlig ohne Aussicht. Vertrauen wir auf das Leben. Es hat sich noch immer seinen Weg gebahnt.


Rolf Schmidt-Holtz: Editorial Was wird das für ein Deutschland?in: "Stern", H.13/1990Text!

Bezieht sich auf Theo Sommer: Vor der Einheit. in: Die Zeit", H.13/1990. Aus den Trümmern wachsen keine Utopien. Krisen sind die Stunden der Pragmatiker.Text!

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