Über das Siegen

Es ist eine alte Sache, daß Menschen immer wieder etwas miteinander auszufechten haben, was sie in Sieger und Besiegte scheidet. Die entsprechenden Goethe-Zeilen werden denn auch schon seit vielen Generationen den Töchtern, aber vor allem den Söhnen des deutschen Kulturvolkes in die Stammbücher geschrieben. Du mußt steigen oder sinken, Du mußt herrschen und gewinnen oder dienen und verlieren, leiden oder triumphieren, Amboß oder Hammer sein.

Du mußt? - Wenn ich aber nicht will? Ich will nicht Hammer sein und habe es auch nicht gelernt. Und ich verweigere den Dienst als Amboß!

Als ob es hier nach Wünschen ginge! Sein oder Nichtsein - die Hamlett-Frage. Oder: Wer wen? Da heißt es hart sein, hart werden. Ich lese, ganz ohne Arg, im Lehrbuch Musik für die zweite Klasse. Mitten in einem harmlos daher kommenden Rodellied springt mich plötzlich die Zeile an:  Wer Angst hat, der wird ausgelacht!  - Warum ist mir das nicht früher aufgefallen? Hat es mich nicht erreicht, weil nicht ich es war, der solch schrillem Spott ausgeliefert wurde, weil nicht ich es war, an dem die Meute ihr Mütchen kühlen, ihr Selbst- und Gruppenbewußtsein aufrichten wollte, gnadenlos gegen den am Boden, den Schwächling?

Es ist, als habe jemand das Fenster aufgestoßen! Dieses schöne Bild hat Stefan Heym verwendet in seiner Rede auf der Kundgebung der Künstler am 4. November. Und was geschah seither?

Ein kräftiger Zugwind hat alte Papiere von den Tischen gefegt, und wir begannen mit der Entrümpelung, bevor wir so Recht zur Besinnung kamen.

Bezüglich der Werte und Möglichkeiten unserer Lebensgestaltung ist jähe Bezweifelung ausgebrochen all überall. Wir sehen uns unvermittelt einem Lernzwang ausgesetzt, dessen Ausmaß und Tempoanforderungen uns nicht bekannt sind aus der alten DDR. Und diejenigen, die sich mit dem Schein der Dinge begnügen, die nicht nach woher und wohin fragen und das Denken den Pferden überlassen wollen - die meinen wohl auch, Andere hätten die Lösungen, die wir brauchen, schon fertig in der Tasche.

Notwendigkeiten der Neubestimmung stehen aber vor der ganzen Menschheit. Im Weltbewußtsein greift mehr und mehr die Einsicht Raum, daß wir nicht weiter kommen, wenn die Krone der Schöpfung die Natur behandelt, wie ein eigennütziger, launischer Herr seinen Diener. Es läßt sich schon in mathematischen Modellen und wissenschaftlich begründeten Szenarien aufzeigen, daß wir auf den hergebrachten Wegen des industriellen Fortschritts bei weiterer Aussaugung kaum erneuerbarer Naturvorräte von Sieg zu Sieg der eigenen Niederlage entgegen schreiten. 800 Millionen Inder kann die Erde verkraften; 800 Millionen, die wie deutsche Bundesbürger leben, nicht. Die mir solches sagte, ist Bundesbürgerin, Weltbürgerin.

Und Ernst Bloch schrieb vor mehr als 30 Jahren: Unsere bisherige Technik steht in der Natur wie eine Besatzungsarmee in Feindesland, und vom Landesinnern weiß sie nichts. Wessen Sieg war eigentlich die Vertreibung dieses Philosophen von der Leipziger Karl-Marx-Universität? Dieser "Sieg" war einer der vielen Schritte hin zur Niederlage einer historischen Bewegung, die ihren eigenen Geist verstümmelte, die sich selbst abgeschnitten hat von diesem großen Regenbogenwort Ernst Blochs, das da lautet: Nur wenn das zwischenmenschliche Verhältnis geziemend in Ordnung gekommen ist, das Verhältnis zum Menschen, dem Gewaltigsten, was lebt, kann auch eine wirklich konkrete Vermittlung beginnen mit dem Gewaltigsten, was nicht lebt: mit den Kräften der anorganischen Natur.

Erkennbare Gefahren und rettende Einsichten wachsen um die Wette. Es waren die krebsartig gewucherten Nuklearkriegsarsenale, die nach einem neuen Denken verlangten. Die rettende Einsicht besagt hier, daß die Entfesselung dieser mißbrauchten Naturkraft, den Sieger mit dem vermeintlich Besiegten in den Abgrund reißen müßte. Damit stand die Frage: Wird man rechtzeitig aufhören können zu siegen?

Im Buch der Christa Wolf wird Kassandra vor ihrer Hinrichtung vom Volk der Sieger bedrängt, ihnen etwas von der Zukunft zu sagen. Sie spricht: Wenn ihr aufhörn könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehen.

Drauf der Wagenlenker, der sie befragt hatte: Du glaubst nicht daran, (...) daß wir zu siegen aufhörn können.

Kassandra: Ich weiß von keinem Sieger, der es konnte.

Diese Auskunft machte den, der sie erbeten hatte, erbleichen, und er hätte gern eine Erklärung gehört, die ihm bestätigt hätte, daß man da sowieso nichts machen könne, weil das eben die Natur des Menschen sei. Er fragt die Seherin: So ist, wenn Sieg auf Sieg am Ende Untergang bedeutet, der Untergang in unsere Natur gelegt?

Hier die Antwort: Ich glaube, daß wir unsere Natur nicht kennen. Daß ich nicht alles weiß. So mag es in der Zukunft Menschen geben, die ihren Sieg in Leben umzuwandeln wissen.

Den Sieg in Leben umwandeln! - Einen schöneren Leitgedanken kann ich mir kaum denken, gerade für unser Land in diesen wendenden Tagen. Welche Partei aber wird es vermögen, ihren Sieg in Leben zu verwandeln?

Keine Bange, ich achte bei meiner Antwort darauf, keine der wahlkämpfenden Seiten zu begünstigen. Überhaupt scheint mir, daß wir die wichtigen Fragen unseres Lebens allzu leichtfertig zu Parlamentsangelegenheiten machen. Die Geschichte der Volkserhebungen ist nämlich auch eine Geschichte der verschenkten und gestohlenen Siege.

Es sind jetzt so unglaublich viele Parteien, die darum wetteifern, unser aller Angelegenheiten vertreten zu dürfen. Die bunte Auffächerung der Standpunkte ist nur folgerichtig, denn die Blickwinkel waren auch in diesem Land nie so gleichgerichtet, wie es scheinen mochte.

Parteien streiten für und wider. Das kann Klarheit schaffen, aber auch Verwirrung. Parteien müssen sich, sonst wären sie keine Parteien, von ihrem parteilosen Hintergrund abheben und sich profilieren, indem sie sich gegeneinander abgrenzen. Wenn ihnen der politische Gegner einen freundlichen Rat gibt, müssen sie verborgenes Gift vermuten, müssen sie List und Tücke wittern. Sie führen gegeneinander Wahrheiten ins Treffen, oder was man für Wahrheiten hält bzw. halten soll.

Es wäre irrig zu glauben, politische Parteiungen und Parlamente seien das Wichtigste in einer entwickelten Demokratie. Wo sich Parteien zwischen uns und die gesellschaftlichen Angelegenheiten schieben, werden Sachfragen in das Kraftfeld von Macht und Prestige gezogen. Die Sachfragen sind aber eh schon kompliziert genug, denn sie betreffen widersprüchliche soziale Interessen. Als Steuerzahler zum Beispiel wollen wir möglichst wenig abgeben; aber als Angewiesene auf staatliche Leistungen (zum Beispiel der Fürsorge oder Investitionen in Gesundheits- oder Verkehrswesen) müssen wir an einem hohen Steueraufkommen interessiert sein. Wir wollen, daß alle möglichen Dienstleistungen erschwinglich bleiben, aber auch, daß sie verbessert, modernisiert werden.

Wir brauchen also demokratische Vereinigungen, die sich unmittelbar den sozialen Interessenlagen verpflichtet wissen. Wir haben noch nicht genug dafür getan, meine ich, damit nicht einfach diese oder jene politische Parteiung siegt, sondern die Werktätigen, die Kinder, die Jugendlichen, die Frauen und Männer, die Älteren und Behinderten, die Mieter, die Verbraucher, die allesamt Luft brauchen, die sich atmen läßt und Wasser, das genießbar ist.

Geben wir uns also ein legitimiertes Parlament, endlich; und achten wir darauf, daß es nicht das einzig tätige Element bleibt, daß Politik immer Mittel, nie Selbstzweck ist.

Es wird Sieger geben. Ihren Sieg in Leben zu verwandeln, vermögen nur die Sieger, die ohne Häme und Triumph sind. Die Kunst des Umgangs miteinander im Konflikt ist hier nicht minder gefragt wie im persönlichen Alltag.

Manche Ehe, die auf Liebe und Gemeinsamkeit gegründet wurde, ging daran kaputt, daß in den unvermeidlichen Konflikten des Alltags jeder triumphieren, siegen wollte. Der genossene Triumph des einen ist da immer die Kränkung, die Erniedrigung des anderen. Die Wiederholung führt zum Rollenspiel, aus dem die Beteiligten kaum noch ausbrechen können. Die Anlässe des Streits wechseln, werden schließlich nebensächlich. Es geht nur noch um Prestige, Macht und Genugtuung. Wie das Zerwürfnis seinen Anfang nahm, weiß oft niemand mehr zu sagen. Am Ende treffen sich die, die einst als liebende Partner einander achteten, vor Gericht als Parteien, die Schuldfragen zu klären haben. Den Saal verlassen diese Parteien als geschiedene Leute. Wollen wir ihnen wünschen, daß sie dann gleich getrennte Wohnungen beziehen können, daß sie zusammen oder getrennt von vorn beginnen können, freilich nicht in den fatalen Rollen von Siegern und Besiegten.

Eine Aufforderung, aufzuhören zu siegen, mag für unmöglich gelten in einem Moment, wo es nötig wird zu kämpfen um der Zukunft Willen - aber geht es da um Sieg? Ums Leben geht's, nicht um den Triumph.

Menschlich leben heißt, Hoffnungen zu gestalten. Ich möchte abschließend noch einmal Christa Wolf zitieren: Wenn wir aufhören zu hoffen, kommt, was wir befürchten, bestimmt. Und an anderem Ort warnt sie, .. der in den Kampf bedingungslos Verstrickte sieht ja nichts.


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