Vom Verlieren und Gewinnen auf der Suche nach Glück

Die Welt der Märchen steckt voller Gleichnisse. Nehmen Sie zum Beispiel "Hans im Glück". Was sollte dem Hans noch ein Klumpen Gold, der kaum zu schleppen war, wenn er doch - auf einem Pferd sitzend - so viel trefflicher durch die Welt kommen konnte! Als es ihn aus dem Sattel warf, offenbarten sich ihm Vorzüge der Milchkuh. Doch statt der Milch bekam er nur einen Tritt von ihr.

Wie angenehm war dagegen die Aussicht auf ein Schwein mit der Verheißung eines saftigen Bratens!

Immer wog unser Held Lust und Last gegeneinander. Was er hatte, war bald Last. Was die anderen hatten, versprach Lust. Bis er es eintauschen konnte; dann wuchs schnell wieder neuer Verdruss.

Die ihm begegneten, erkannten sehr bald des Burschen Einfalt. Das Schwein wurde ihm abgeschwatzt gegen eine Gans, die Gans schließlich gegen einfache Feldsteine, und als die in den Brunnen fielen, war auch das kein Grund zur Traurigkeit: Nun brauchte er sie nicht mehr zu tragen und hatte die Hände frei. Hier endet das Märchen. Es spricht nicht mehr davon, wie Hans heimkehrte zu seiner Mutter mit leeren Händen. Wir müssen uns selbst ausmalen, wie es sich dann lebte, ohne den möglich gewesenen Besitz. Wir erfahren nichts von Not und Bedürftigkeit, nichts von Hunger und Kälte, nichts, wohin weitere vage Verheißungen unseren Hans möglicherweise noch trieben.

Wie dem auch sei, das Märchen ist ein Spiegel. Mir zeigt es die Verführbarkeit zu kurzsichtigem Handeln. Wenn Maßstäbe und Wertbezüge fehlen, dann liegt das Heil immer in dem, was ich nicht habe. Was ich habe, drückt mich. Wie kann das sein? Als ich es noch nicht hatte, versprach es das reine Glück!?

Leicht verfallen wir der Illusion, die Lösung unserer Probleme sei woanders viel einfacher, weit billiger zu haben. Nicht immer ist das eine Illusion, doch wer vor Schwierigkeiten davonläuft, denke ich, wird ewig ziehen müssen, bis er sich kompromisselnd irgendwo dreinschickt, oder sich doch noch der eigenen Situation stellt mit allen ihren für und wider, um sie zu gestalten nach eigenem Maß. Dabei wird er (wird sie) "Federn lassen" und - was oft schlimmer ist - nicht selten ins Leere, ins Abseits laufen, an Unverbindlichkeiten zurückprallen. Meine Schwierigkeiten mit der eigenen Situation haben sicher viel zu tun mit meinen Lebensumständen, aber mindestens ebenso viel mit meiner eigenen Weise, auf diese Umstände zu reagieren. Das ist eine Sache meiner Persönlichkeit, und die nehme ich mit all ihren Problemen überall hin, wohin ich auch fliehen mag. Und jeder Versuch, die eigene Situation wegzutauschen gegen eine vermeintlich bessere, ist auch Verlust von etwas: Verlust von Heimat, Bindungen, Wurzeln.

Verlieren im Streben nach größerem Glück - wer ist davor schon sicher? - Derjenige ist es, der nichts erstrebt. Seine Lebenslogik sagt: Halte fest, was du hast, und sei es noch so bescheiden! Was du hast, weißt du; was du dir einhandelst, ist nicht gewiß!

Das ist die Aufforderung, über die Unvollkommenheiten, die Schwächen, Mängel und Fehler der eigenen Lage freundlich hinwegzusehen.

Heraus kommt lediglich eine andere Weise, das eigene Geschick nicht zu meistern, denn wenn ich mein Leben nicht zu gestalten weiß, bleibt mir dann nicht bloß, es zu erleiden und mich einzurichten, eher schlecht als recht?

Bei Fred Wander lese ich: "Der Mensch ist gemacht, auf dem Weg zu sein, in der Mühe, im Kampf, in der Herausforderung aller seiner Kräfte. Das ist sein 'Paradies'. Unterwegs hat er das Gefühl, ein Mensch zu sein, noch lebendig, noch gebraucht. Ist er irgendwo angekommen, bricht seine innere Welt zusammen, versiegen die Quellen."

Was für den einzelnen Menschen gilt, betrifft auch das "Ensemble seiner Beziehungen", betrifft die Gesellschaft. Auch deren Trieb-und Spannkräfte erwachsen ja nicht so sehr aus dem Bewußtsein, ein vermeintliches "Paradies auf Erden" errichtet, die "beste aller Welten" geschaffen zu haben; eher schon aus der Erfahrung und Fähigkeit, ein Ungenügen am Erreichten in änderndes, gestaltendes Engagement münden lassen zu können.

Ich erinnere mich der Resultate einer soziologischen Untersuchung. In einem Großbetrieb waren die Kollegen gefragt worden, ob sich ihre Arbeits- und Lebensbedingungen in den letzten Jahren verbessert haben. Erstaunlich war nun, daß die Bewertung der eigenen Bedingungen auch dort unterschiedlich bis gegensätzlich ausfiel, wo sie für alle gleich waren. Wie konnte das sein? Die genauere Betrachtung zeigte, daß Veränderungen zum Besseren vor allem von denen gewürdigt wurden, die selbst aktiv an ihnen beteiligt gewesen sind. Die passiveren Konsumenten des gesellschaftlichen Fortschritts hatten solche Veränderungen entweder gar nicht wahrgenommen oder als selbstverständlich, geringfügig und nicht der Rede wert abgetan.

An Aufgeschlossenheit gegenüber verheißungsvollen Veränderungen hat es unserem "Hans im Glück" freilich nicht gefehlt. Was ihm mangelte, war "Durchblick", war die Fähigkeit, sich zu orientieren. Stets sah er nur die unmittelbarsten Möglichkeiten und Wirkungen: "Sieh, das Gute liegt so nah", und das "Schlechte" lag immer noch näher!

Die Bewegung, welche wir Fortschritt nennen, ist sehr anspruchsvoll, auch wo es um unsere Fähigkeit geht, Ursachen, Möglichkeiten und Wirkungen zu erwägen und in ihre ferner liegenden Vermittlungen zu verfolgen. Das kann nicht anders sein, denn diese Bewegung vollzieht sich wie jede Bewegung in Widersprüchen und globalen - räumlichen und zeitlichen - Verstrickungen. Jede Lösung, die wir uns erstreiten, ist dabei stets nur eine von vielen möglichen. Sie hat ihre Vorzüge, die wir kennen müssen, aber auch ihren Preis, der uns gleichfalls bekannt sein muß, denn der ist zu bezahlen, mußte also kalkuliert werden.

Unser Grimmscher Märchenheld wollte immer das Bessere, doch wenn er das dann hatte, rückte das Glück wieder weiter in die Ferne. Warum, das konnte er nicht herausfinden. Wollte er es überhaupt? -

Mit der Reichweite unserer Handlungen wächst unsere Verantwortung, wächst auch der objektive Lernzwang. So mußten und konnten wir lernen, daß sich die Natur nur "dienstbar" machen läßt, wenn auch wir ihr dienen. So müssen und können wir lernen, daß der Genuß eine Qualität ist, die Fülle braucht, nicht aber Überfluß. Die weit verbreitete Vorstellung des Kommunismus als einer Gesellschaft des Überflusses ist weder richtig, noch wirklich attraktiv.

Um fünf Milliarden Erdenbürgern die materiellen Voraussetzungen zu sichern für körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden, kann unser "Stoffwechsel mit der Natur" gewiß nicht auf Verschwendung angelegt sein. Es ist absehbar geworden, daß sich das Tischlein kommender Generationen nur decken wird, wenn es gelingt, die gewaltigen Ausflüsse der Stoffe und Energien einigermaßen in Kreisläufe zu zwingen, die allen zugute kommen.

Ja, unsere Welt ist eine sehr unfertige. Daß sie unzulänglich ist, heißt aber doch auch, daß sie voller ungenutzter Möglichkeiten steckt, die noch zu entdecken und zu probieren sind. In der Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit können wir wachsen und Glück erfahren, ein flüchtiges Glück, sicher; doch war nicht Faustens Leben an sein Ende gekommen, als er zum Augenblicke sprach: "Verweile doch, du bist so schön.", als er endlich wunschlos glücklich war?



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