Mein schwieriger Umgang mit Punktschriftbüchern

Kapitel:

Pädagogen entdecken alarmierende Anzeichen für ein modernes Analphabetentum nun auch unter den auditiv hoch versorgten Sehgeschädigten. Punktschriftbüchereien scheinen auf verlorenen Posten zu stehen. Die Bewahrung der Schöpfung von Braille bis Picht und Perkins scheint im Zeitalter der Telefaxen in die Sparte "museale Angelegenheiten" delegiert worden zu sein. Ein "Leseland" schien dem Trend zu widerstehen; es hat sich im Mythos verflüchtigt.

Mitten im Strudel, der meine fragwürdigen Koordinaten erfaßt hat, habe ich gelernt, jede Zustandsbeschreibung mit der Modalität der Vorläufigkeit, mit dem Wörtchen "noch" zu relativieren. Dem folgenden Text stelle ich deshalb diese Feststellung voran: Noch werden Punktschriftbücher hergestellt und gelesen. Mit gemischten Gefühlen pfeife ich mir auf eine alte Melodie einen neuen Text: "Zwischen Bücherberg und Digital saßen einst ..."

0. Medienhistorischer Tröstungsversuch

Sehr flüchtig ist, was ich träume, fühle und denke. Menschen trachten schon immer danach, Flüchtiges festzuhalten. Daher vielleicht das ewige Bemühen um immer bessere Techniken, sich mitzuteilen und das Mitgeteilte zu konservieren.

Verbale und nonverbale Darstellung in der Kulturgeschichte hat ein geistiges Band geschaffen, das immer größere Räume und Zeiten überspannt. Mündliche Überlieferung ist dabei mehr und mehr in den Hintergrund getreten. Dominierender Sinn ist das Auge.

Mit dem gesamten Geschichtsprozeß hat sich die Entwicklung der Kommunikation und ihrer Mittel mehr und mehr beschleunigt. Zwischen den frühesten Felsmalereien und den antiken Pergamenten liegen noch Jahrtausende. Von der Erfindung des Buchdrucks bis zur Telegraphie vergingen zwei Jahrhunderte. Zwischen Telegraphie und Telephonie liegen keine vier Jahrzehnte mehr. Radio, Bildfunk, Fernsehen, digitale Informationsübertragung - ganz nach Bedarf lichtleiterverkabelte, terrestrisch oder via Satellit gestrahlt - folgen Schlag auf Schlag.

Irritiert sucht unser kulturelles Selbstverständnis Halt - auch im guten alten Buch. Und es wächst die Angst, sich zu verlieren im Einheitsbrei audiovidiotischer Fertignahrung.

Wieder und wieder wird das Buch totgesagt. Das verspricht ein langes Leben. Bisher haben sich die Untergangspropheten noch immer geirrt. Die Fotographie hat die Malerei nicht umbringen können, und die Cinematographie nicht die Fotokunst. Das Fernsehen schiebt Kino und Radio beiseite, läßt ihnen aber genug Raum zu Koexistieren.

Wo Neues entsteht, findet immer auch Verdrängung statt; aber in der Kulturgeschichte geht weniger verloren, als gemeinhin angenommen wird. Verdrängtes wird häufiger überlagert und und assimiliert als vernichtet. Neues schiebt sich als Schichtung über Älteres.

Was nicht verschwindet, ändert seine Rollenbestimmung. Mit dem Aufkommen der Fotographie wurde die Malerei von ihren dokumentarischen und chronistischen Pflichten entbunden. Wer von ihr noch authentische Abbildungen verlangte, konnte auf die Fotografen verwiesen werden.

Freunde der Malerei suchen und finden subjektive Sicht. Und auch die fixierten Bilder werden - wenigstens von ihren bewußten Betrachtern - tiefer erlebt, seit Bilder elektrisch immer schneller laufen lernten, bis die Fernsehmacher die Faustregel aufstellten, daß eine Bildeinstellung den Zuschauer nicht länger als 15 Sekunden zugemutet werden könne.

Unsere Lebensumstände variieren so rapide, daß die Bedürftigkeit immer stärker gefühlt wird, sich der Konstanten in unseren Lebenszusammenhang zu versichern, Flieh- und Schwerkraft in eine Balance zu bringen. Für unser Thema bedeutet das: Im Zeitalter der digitalen Datenbanken ist auch das Buch nicht verloren, wenn wir nur seinen Platz kulturell neu verorten. Als rationaler Informationsträger ist das Buch überholt; wichtig bleibt es dort, wo es ästhetisch wirkt.

Ein Umbruch, der mit den gegenwärtigen vergleichbar ist, vollzog sich, als das Druckerhandwerk das Buch in eine Massenware verwandelte. Mit Gutenberg schien das Ende der Autographen gekommen. Doch das Gegenteil passierte; Die alten Handschriften werden heute als unersetzliche Schätze gehütet. Wer kann sich schon der Faszination entziehen, die heute von der Berührung eines uralten Folianten voller beschriebener Pergamente ausgeht?

Was die verschiedenen Kulturepochen hinterlassen, lagert sich um uns "tool making animals" wie Schichtungen, die sich als Ringe schließen. Die Computerkultur ist der bislang äußerste Ring. Vieles spricht dafür, unsere Geschichte, die eine fortgesetzte Glücksuche ist, als Flucht in die Ersatzbefriedigung durch technische Werke zu deuten. Wäre Flucht die einzige Bewegungsrichtung, würde der Computer das Buch tatsächlich besiegen.

1. Über die Sinnlichkeit der Bücher

Bücher sind sinnliche Wesen mit Leib und Seele, mindestens für Menschen, die mit ihnen intimen Umgang pflegen, für Liebhaber. Der Buchleib, der Schriftkörper hat viele, mehr oder weniger aufregende Seiten. Die Seele steckt im Sinn, zu dem die Schriftzeichen sich verbinden. Selbst im Zeitalter der mittlerweile rechnergestützten Massenproduktion ist es der Buchkunst noch möglich, jede Edition mit Individualität auszustatten. Noch das zig-tausendste Exemplar einer Großauflage hat die gleiche Beschaffenheit, wie der Band, den Verleger und Autor nach vollbrachter Arbeit wie ein eigenes Kind liebkost haben könnten.

Meine Beziehung zum jeweiligen Buch vertieft sich mit dem Wissen um das einmalige Schicksal von Verfasser, Text, Edition und mitunter auch des einzelnen Exemplars, das ich berühre.

Nüchterne Gemüter werden diese Sicht kindisch bis kultisch finden. Sie haben recht und sind doch mindestens um einen Genuß ärmer. Selbst wenn ich mir ein Buch vorlesen lasse, habe ich das Bedürfnis, es in die Hand zu nehmen. Wenn mir auch seine optischen Reize unzugänglich sind, bleibt mir der Geruch, die Berührung des Materials, das Wiegen des Körpers in der Hand.

Mit der Punktschriftübertragung erfährt das Buch mindestens eine äußere Verwandlung. Meyers Taschenlexikon verwandelt sich in eine Handwagenladung mit der möglichen Folge von Platzangst. Blochs "Prinzip Hoffnung" (in der Suhrkamp-Ausgabe 1624 Seiten) füllt nach der handschriftlichen Übertragung 33 Punktschriftbände.

Das Nachschlagewerk mag imposanter wirken, wenn es ganze Regale füllt. Der Berg des Philosophenwerkes, der sich in 17 Kartons türmt, muß schnellstens ab- und aus-dem-Haus-gearbeitet werden, weil er den Nachschub blockiert. Wie soll da eine intime Beziehung zum Buch aufkommen?

Das Punktschriftbuch hat Hörbuch und Digitalspeichern gegenüber den Vorzug, immerhin noch körperlich Buch zu sein. Aber die Form des Buches ist trotzdem schon eine gebrochene Form. Fast alle Momente der künstlerischen Gestaltung, die in der Vorlage noch mit dem Text korrespondierten, gehen in der Übertragung verloren. Der Spielraum für eine ästhetisch individualisierende Gestaltung des Punktschriftbuches ist gering. Variationen im Schriftbild läßt das 6-Punkte-System kaum zu. Variationen in der Schriftgröße sind für den tastenden Finger ein Problem.

Aufgelockerte Formatierung des Textes erhöht den ohnehin zu großen Platzbedarf. Bliebe noch die Wahl des Materials, aus dem das Buch gemacht ist, die Gestaltung des Einbandes und die Vielfalt der möglichen Buchformate. Es sind überwiegend Erwägungen der ™konomie, des vertretbaren Aufwands, die den Spielraum klein halten.

Punktschriftkörper sind mir erinnerlich geblieben aus frühester Schulzeit, vor dreißig Jahren. Es waren Vorkriegsausgaben, die aus unerfindlichen Gründen unsere Aufenthaltsräume bevölkerten und überwiegend achtlos bis grausam behandelt wurden. Ich weiß nicht mehr, was drin stand, aber ich kann noch den Eindruck abrufen, den es machte, diese Wunder in Furnier oder Leder, mit Messingbeschlägen, kunstvoll verschnörkelten tastbaren Aufdrucken und Buchseiten, die wie Pergament knisterten, anzufassen.

Eben hielt ich ein neuzeitliches Punktschriftbuch in der Hand, von dem für mich ein Gefühl angemessener Schönheit ausgeht; Hans Magnus Enzensbergers "Furie des Verschwindens" in der 1986er Ausgabe der Marburger Blindenstudienanstalt. Dieses Buch ist schlicht und handlich, die Deckel dünn und doch stabil, der Einband abgesetzt mit griffigem Kunstleder, desgleichen die Buchecken. Dieses Buch liegt auf eigentümliche Weise leicht in den Händen. - Mit einem kleineren Format hätten es die Editoren vielleicht versuchen können. Die Zeilen der Gedichte sind überwiegend relativ kurz. Ein Stilbruch wäre es bei diesen Gedichten jedoch, sie in einen Leinenschuber zu stecken.

"Blindenschrift" heißt ein anderer Gedichtband von Enzensberger. Das Titelgedicht mag ich nur metaphorisch lesen. Es wurde erstmals 1964 veröffentlicht und ist deshalb schon veraltet in seinem Bezug auf Lochstreifen. Im Kern ist es noch so gegenwärtig, daß ich die Anfangszeilen hier zitieren möchte.

"Lochstreifen flattern vom Himmel
es schneit Elektronenbraille
aus allen Wolken
fallen digitale Propheten"

Brailles Punktschrift ist tatsächlich einer der modernsten Zeichensätze. Das ewige Problem der deutschen Großschreibung existiert praktisch nicht; die Barrieren zwischen lateinischer, kyrillischer und griechischer Schrift sind sehr niedrig. Die Formung der Zeichen im 6-Punkte-Feld kommt den technischen Schriftsystemen (Morse-Alphabet, digitale Datenspeicherung) näher als irgendeine andere Kulturschrift.

In der Geschichte der Schriften gibt es eine klare Tendenz zur Vereinfachung, die der praktischen Handhabung zugute kommt, aber zugleich die ästhetischen Räume mehr und mehr verengt. Die Braille-Schrift ist schon völlig frei von Ornamentik und

Zierrat.

Zusammenfassend bleibt zu sagen:

In der Punktschriftübertragung reduziert sich das leibliche Dasein des Buches auf die bloße Funktion, materieller Träger des Textes zu sein. Die äußeren Gestaltungsmöglichkeiten sind beschränkt; ästhetische Reize kommen kaum zur Wirkung. Wir stehen dem Text unmittelbar gegenüber; positiv gesagt: Der Zugang des Lesers zur Botschaft des Autors ist unverstellt von ˇußerlichkeiten.

Punktschrift wird taktil wahrgenommen. Zeichen für Zeichen, Feld um Feld gleiten die Finger durch die Zeilen. Die Tastschrift ist an die Besonderheiten der taktilen Wahrnehmung gebunden. Sie ist notwendig standardisiert in Größe sowie in den Abständen zwischen den Punkten, Zeichen und Zeilen. Die Haltbarkeit der Schrift erfordert eine bestimmte Festigkeit des Druckmaterials, bei Papier eine bestimmte Stärke. Das macht die Punktschriftbücher zu recht behäbigen Vehikeln des Textes. Schon ein Text von 150 Schwarzdruckseiten sprengt einen Punktschriftband. Die meisten Punktschriftbücher sind mehrbändig.

Von Zeit zu Zeit sollten unsere Verlage die Autoren durch Zusendung einer Braille-Ausgabe ihrer Werke beeindrucken. Vielleicht rangiert die Punktschriftausgabe dann neben einer chinesischen oder arabischen Übersetzung in der Abteilung Exotisches. Exotisch sind die Punktschriftbücher ja für die Mehrheit derer, die mit Augen lesen. Unsere Stellung als schriftkulturelle Minderheit erhöht ja die ökonomischen Schwierigkeiten. Warum sollten wir also nicht versuchen, gut verdienende, sensible Sprecher dieser Mehrheit auf so direkte Weise anzusprechen, um sie als Partner einer Öffentlichkeitsarbeit zu gewinnen, die dem Punktschriftbuch hilft, zu überleben?

2. Das Punktschriftbuch und meine anderen Möglichkeiten

Der Trend besagt: Hörbücher drängen die Punktschrift an den Rand. Das Hörbuch kann einfacher und kostengünstiger hergestellt werden. Es ist auch bequemer für den Nutzer.

Das gesprochene, das vorgelesene Wort dringt schneller zu uns und leichter in uns als das Braille-Gedruckte. Es macht auch schon einen Unterschied, ob ich drei handliche Kartons Kassetten oder 17 Kisten Punktschrift zur Post tragen muß.

Es gibt also Gründe genug, das Hörbuch zu favorisieren. Der Punktschriftleser muß sich physisch bewegen. Der Hörer hat seine Hände frei. Mit einem Miniaturrekorder kann ich mir den Luxus leisten, mir auf Schritt und Tritt ins Ohr lesen zu lassen: auf Bahnfahrten, bei der Küchenarbeit, beim Rasieren, Baden usw. Kulturkritiker haben zwar ernsthafte Einwände gegen diese Gleichzeitigkeit intensiver Beschäftigungen, aber es kann auch auf gute Traditionen der Kombination von Hand- und Kopfarbeit verwiesen werden. So hatte die älteste deutsche Gewerkschaft, der Verband der Zigarrenmacher, vor mehr als hundert Jahren die Forderung durchgesetzt, daß die Unternehmer auf fünfzehn Zigarrenmacher einen Vorleser beschäftigen mußten. So gehörten die Zigarrenmacher zu den gebildetsten unter Deutschlands Proletariern.

Bildung ganz nebenbei. Gut, aber: Zum einen Ohr herein - zum anderen wieder hinaus! Wie steht es damit? - Ja, der vorgelesene Text kann leicht durch mich hindurch gehen, aber wenn der Punktschriftsyntesizer und -übersetzer in meinem Kopf nicht konzentriert arbeitet, rinnen mir auch die Braillezeichen wie Sand unter den Fingern dahin.

Ich bin ein taktiler Typ. Doch ich nehme an, daß es nicht nur an der individuellen Veranlagung liegt, daß ich beispielsweise bei der Arbeit mit dem "sprechenden Taschenrechner" die Zahlen aufschreiben muß, um sie tatsächlich zu erfassen. Auch wenn ich Textpassagen aus dem Hörbuch bewahren will, muß ich sie von der Kassette abschreiben. Bei späterem Nachlesen der Exzerpte bin ich immer wieder erstaunt, wie gründlich ich den Rest vergessen habe.

Auge und Ohr sind Fernsinne. Die Sensoren unserer Haut gehören zu den Nahsinnen. Bei unserer Selbstvergewisserung in der Welt sind die Nahsinne gegenüber den Fernsinnen primär. Ob die Eindrücke, die uns Auge, Ohr und Nase vermelden, einen gegenständlichen Bezug haben oder nicht etwa doch Sinnestäuschungen sind, wissen wir nur, weil wir irgendwann (überwiegend schon als Kleinkind) die Erfahrung gemacht haben, daß sie sich auch fassen, fühlen und schmecken lassen. Es entspricht ja einem ganz natürlichen Lernreflex, wenn Kleinkinder alles in den Mund stecken wollen.

Die taktilen Schriftzeichen sind nicht weniger abstrakt wie die optischen. Beide müssen denkend zur Sprache syntetisiert werden. Diese Mühe bleibt beim Hörbuch erspart. Andererseits ist es lesend leichter, das Tempo der Informationsaufnahme dem Tempo der eigenen Gedankenarbeit fließend anzupassen. Wesentlicher aber noch dürfte sein, daß die größere Mühe auch tiefere Spuren hinterläßt.

Die Mühe begegnet uns lateinisch wieder im Wort Studieren. Beim Studieren müssen wir Sehgeschädigten alles tun, um in einer visualisierten Welt durch volle Ausschöpfung aller Möglichkeiten unserer "Restsinne" zu bestehen. Der Erfahrungsaustausch über persönliche Strategien im Umgang mit den anfallenden Informationsfluten wird niemals überflüssig sein.

Mein Universitätsstudium habe ich in der alten DDR absolviert. Was uns Sehgeschädigte unter der Glasglocke der Abgrenzung so erfolgreich sein ließ, daß viele von uns auch nach dem Hochschulstudium im akademischen Betrieb bestehen konnten, wird zum Problem, sobald der scharfe Wind des freien Wettbewerbs weht. In der DDR wuchsen Akademiker unter recht behüteten, ja vor- und fremdbestimmten Bedingungen heran. Es gab eine 4-5jährige Regelstudienzeit mit Bezug eines festen Grundstipendiums. Die Studenten waren schulähnlich eingeteilt in Seminargruppen, denen aus dem Lehrkörper Seminargruppenberater zugeordnet waren.

Diese Verschulung akademischen Betriebes, die sich heute als Wettbewerbsnachteil rächt, kam unseren Mobilitätsbeschränkungen schon dadurch entgegen, daß es in der Horde, wo darauf geachtet wird, daß möglichst kein Schaf den Anschluß verliert, leichter ist mitzukommen.

Dort, wo ich mich immatrikulieren ließ (an der Sektion Philosophie/wissenschaftlicher Kommunismus der Karl-Marx-Universität Leipzig) war der blinde Student ein Novum. Aufregung bei der Seminargruppenberaterin. Doch nicht so schlimm: In der DDR gab es wohl auch häufiger sehgeschädigte Dozenten und Professoren als in der alten Bundesrepublik. So konnte sich meine Seminargruppenberaterin in spe an Prof. Klemm wenden, um sich von einem Betroffenen beraten zu lassen. Dafür, daß er ihr dringend ans Herz legte, darauf Wert zu legen, daß dieser blinde Student möglichst alles, was er ohne fremde Hilfe bewältigen kann, auch wirklich selbständig tut, bin ich ihm noch heute dankbar. Ich wurde also konsequent auf eine maximale Nutzung der Blindenbibliotheken orientiert, um Vorlesekräfte wirklich nur so weit einzusetzen, wie es nicht zu umgehen war. Ich hatte Glück, im Wohnheim auch genug Platz zu bekommen, um diesem Grundsatz einigermaßen folgen zu können.

Wenn es darum gehen soll, bestimmte Regeln aufzustellen, könnte eine erste lauten: Organisiere dein geistiges Leben so, daß du möglichst viel selbst liest! Lesen gehört zu den Voraussetzungen meiner Tätigkeit als Wissenschaftler und Lehrbeauftragter. Thematisch bewege ich mich in den Grenzregionen zwischen Philosophie und Soziologie. Was die Blindenbibliotheken dafür hergeben, ist äußerst unvollständig, aber ich lasse mich bei meiner thematischen Orientierung trotzdem, soweit es geht von diesen Möglichkeiten bestimmen. Wie das geht, soll kurz am Beispiel belegt werden.

Das philosophische Institut, an dem ich zur Zeit beschäftigt bin, plant mit einer französischen Partnereinrichtung eine Konferenz zum Thema "Europa zwischen Wirklichkeit, Utopie und Mythos". Als das konzipiert wurde, las ich gerade Ernst Jüngers "Der gordische Knoten" (übertragen in Marburg).

Dem ersten Eindruck nach hatte ich es hier mit einem gescheiterten Ostlandritter zu tun, der sich über die Idee des europäischen Abendlandes im Westen hoffähig machen wollte. ˇhnliche Flucht nach vorn war mir schon in einem anderen Marburger Buch begegnet; in einer Sammlung deutscher Feldpostbriefe aus dem zweiten Weltkrieg. Ich gehe dieser Sache jetzt weiter nach, wobei ich aus der Emil-Krückmann-Bücherei zwei Jünger-Biographien und die wichtigsten Werke des umstrittenen Schriftstellers beziehen kann. Sehr weit komme ich damit nicht, aber auf das Wenige möchte ich keinesfalls verzichten.

Der Punktschriftfonds ist noch beschränkter als die Zahl der verfügbaren Hörbücher. über Aufsprechdienste ist es auch relativ schnell möglich, benötigte Titel zu beziehen. An Gewicht wird die Nutzung von Literatur gewinnen, die auf Diskette eingelesen ist oder über Datenbanken genutzt werden kann. Aber ebenso wenig, wie uns die rollenden Fortbewegungsmittel der Neuzeit dazu bringen konnten, das Laufen ganz aufzugeben, gehört für mich das selbständige Lesen von Büchern zum unverzichtbaren Unterbau der geistigen Kultur und zu den probatesten Mitteln, geistige Fittness zu bewahren.

Bei moderner Prosa läßt sich ein Teil der Botschaften nur schwer hörbar machen, nämlich der Teil, der in der Interpunktion steckt. Mag sein, der Sprecher des Hörbuches gibt den stummen Zeichen angemessenen Ausdruck. Dennoch: er liefert mir seine und nicht meine Interpretation.

Im Hörbuch ist der Text stets durch die Interpretation der Sprecher gebrochen. Um den Text völlig authentisch zu rezipieren, muß ich beim Hören diese subjektive Brechung wieder herausfiltern. Ich kann die Lesung freilich auch als eigenständiges Kunstwerk annehmen. Es gibt in dieser Hinsicht bemerkenswerte Arbeiten. Ich nenne aus dem Leipziger Hörbuchbestand die Produktion "Franziska Linkerhand" von Brigitte Reimann, gelesen von Dorothea Garlin.

Auch Gedichte wollen unbedingt selbst gelesen sein, und wenns geht, nicht auf der Braille-Zeile. Der Bau des Gedichtes, das Versmaß und die Satzzeichen versuchen oft zwar auch nur die Färbungen gesprochener Sprache abzubilden, aber es bleibt trotzdem dabei, daß es nur einen authentischen Text, aber keine absolut gültige Interpretation gibt. Plötzlich entfallen im Text sämtliche Satzzeichen. Mir teilt sich lesend eine gehetzte Erregtheit mit. Die kann auch der Sprecher wiedergeben. Aber weiß ich dann noch, wo und inwieweit sie vom Autor kommt? Oder: Bestimmte Versteile sind durch Doppelpunkte verbunden. Welche Absicht steckt dahinter? Ich dringe tiefer in den Text, wenn ich vor seinen Rätseln stehe. Der Rezitator hat sie meist für sich und damit zwangsläufig auch für mich schon gelöst.

Unsere Bibliotheken sollten sich darin treu bleiben, bevorzugt klassische Texte zu übertragen, also solche, an denen auch kommende Generationen absehbar schwer vorbei kommen werden. Bevorzugt sollten auch Texte in die Punktschrift genommen werden, denen die gesprochene Adaption besonders weh tun muß, weil es mehr Lese- als Hörtexte sind. Und Bücher, die blinde Kinder, die nächste Generation der Punktschriftleser in die Freuden des Lesens ziehen, werden nötig bleiben.

Auf das Spannungsfeld zwischen Altem und Neuem sollten wir uns auch bei den Kommunikationsmitteln bewußt einlassen.

Nichts sei so alt, wie die Zeitung von gestern, sagt das geflügelte Wort. Sartre aber soll die Angewohnheit gehabt haben, Zeitungen mit zwei, drei Tagen Verspätung zu lesen. Da hat sich der eitel aufgewirbelte Staub gelegt; da ist der Blick historischer, gerechter, weil eher abgeklärt dreingeschaut wird.

Wir, die wir von den zeitgenössischen Medien umworben sind, immer und überall "live" dabei zu sein und in der ersten Reihe zu sitzen, wir können sehr viel gewinnen, wenn wir von Zeit zu Zeit auf Distanz zur atemlosen Tageskultur gehen. "Der in den Kampf bedingungslos Verstrickte sieht ja nichts", heißt es bei Christa Wolf.

Leider sind die Debatten meist schon übern Punkt, wenn Hörbuch und Punktschriftausgabe mich erreichen. Das Buch von Günter Gaus über die Welt der Westdeutschen erhielt ich auf Kassetten mit zweijähriger Verspätung, als sich diese Welt schon so gravierend verändert hatte. Für die ewig heutigen ist das Buch jetzt der Schnee von vorgestern. Aber es hat einen besonderen Reiz, das veraltete Buch gerade jetzt zu lesen (oder zu hören. Kann man Bücher hören?). Das meine ich nicht nur wegen der Irrtümer, die heute tragisch-komisch wirken, wie dieser, daß bei einer damals nur hypothetischen Vereinigung neben dem "schwarzen" Bayern ein "rotes" Sachsen deutsche Identität bestimmen würde.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Zukunft des Punktschriftbuches von zwei Dingen bedroht wird: von den Schwierigkeiten, den ökonomischen Aufwand für eine verschwindende Minderheit zu decken, und von unserer Verführbarkeit zur Bequemlichkeit, die von den auditiven Medien bedient wird. Eine Dosis Punktschrift ist gut für die tägliche geistige Hygiene. Freilich: Alles zu seiner Zeit und zu seinem Zweck.

Ausdifferenzierte Strategien, die die verschiedenen Wege der Wahrnehmung sinnvoll kombinieren, können wir uns für individuelle Wahrnehmungsweisen entsprechend unseren geistigen Bedürfnissen gewissermaßen maßschneidern.

3. Abschied vom Leseland

Ich bin in einem Staat aufgewachsen, der ganz anders sein wollte, als andere sind. Irgendwie ist das ja auch gelungen, wenn letztlich auch nur in der Weise des Mißlingens.

"Bei uns sind Bücher eben Lebensmittel", sagte vor nicht allzu langer Zeit Hermann Kant, der seinerzeitige Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR. Das Protokoll dieses X. Schriftstellerkongreßes kann der historisch interessierte Leser nebst der historisch interessierten Leserin in der Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig (DZB) ausleihen. Wenn Sie nicht dabei waren, muß Ihnen vieles erst umständlich verständlich gemacht werden. So auch die Sache mit den Lebensmitteln.

Bücher im Rang von Lebensmitteln - das verweist ebenso auf den hohen Rang der Literatur, wie auch auf das leidige "Versorgungsproblem". Lebensmittel waren eingeteilt in solche, die für lebensnotwendig befunden wurden und als "Waren des täglichen Bedarfs" und Grundnahrungsmittel eingestuft wurden, sowie in solche, die als Luxusartikel galten. Die Subventionierung der Waren des täglichen Bedarfs wurden durch die Überpreise der Luxuswaren ausgeglichen. Bücher gehörten insgesamt zu den subventionierten Gütern. Schulbücher und Propagandaschriften waren besonders reichlich und preisgünstig zu haben. Der Überversorgung hier entsprach eine Unterversorgung mit vieler anderer gefragter Literatur.

Die Buchproduktion der DDR war zentral verwaltet. Die Verlage und Bibliotheken unterstanden dem Kulturministerium, die Druckereien meist den im "demokratischen Block" vereinten Parteien, und der einen ganz besonders. Wie die anderen reichlich 80 Verlage und mehreren tausend Bibliotheken unterstand die DZB dem Kultusministerium der DDR.

Wahrscheinlich werden wir dieses Patronat trotz allem irgendwie doch auch vermissen, schon weil wir uns mit ihm von dem Prinzip verabschieden müssen, wonach die Punktschriftausgabe zum gleichen Preis an die Kunden in der DDR abgegeben wurde wie das wesentlich kostengünstiger hergestellte Original. Der "Große Duden" mit seinen 18 Punktschriftbänden kostete die gleichen 10,80 Mark der DDR wie die Originalausgabe des Bibliographischen Instituts Leipzig.

Der künstliche Zustand konnte den November 1989 nicht überdauern. Damals hatte Stefan Heyn ausgerufen: "Es ist, als habe jemand das Fenster aufgestoßen!" Rückblickend könnte das Bild weiterentwickelt werden: Ein scharfer Windstoß hat alle Papiere vom Tisch gefegt. Das veränderte Kulturklima wird im Frankfurter "Börsenblatt" auf den Satz gebracht: "Leseland billig abzugeben!" Zu sehen ist eine DDR-Familie in ihrer Wohnnische, eifrig vertieft in dicke Bücher. Aber was da studiert wird, sind deutlich erkennbar Kataloge der einschlägigen westdeutschen Versandhäuser.

Noch wird viel gelesen im gewesenen Leseland. Der Lesestoff hat sich aber schon stark verändert. Ich merke es an mir selbst: Seinerzeit hätte meine Hand gierig gezuckt, wenn auf einem Buchbazar Heyas "Fünf Tage im Juni" zu haben gewesen wären (wohl, weil es nicht sein konnte). Das war die Zeit, in der noch stimmte, was Günter Kunert in seinem (auch als Marburger Punktschriftausgabe verfügbaren) Buch "Diesseits des Vergessens" schrieb: "Die Literatur ist der einzige Tummelplatz abweichender Ansichten von der Welt, und der einzige Platz, wo der Leser noch berücksichtigt findet, was ihn wirklich angeht."

Lesend vollziehen wir Neubundesrepublikaner die geistige Strukturanpassung. Überwiegend geht es um Wissen für den Markt, für den wir lernen müssen, Produkte möglichst vorteilhaft zu erwerben und die eigene Arbeitskraft ebenso günstig zu verkaufen. Juristische Literatur hat hier besondere Bedeutung. Das Spektrum reicht von Verbraucher- und Mieterschutz über Arbeitsförderung und Sozialhilfe bis zu Verwaltungs- und Handelrecht. Wenn sehgeschädigte Juristen aus der ex-DDR jetzt in bestimmtem Maße mit ihren sehenden Kollegen mithalten können, so ist das zu einem guten Teil der Soforthilfe des DVBS und ettlicher seiner Mitglieder zu danken.

Das Leseland blickte gebannt auf das Treiben seiner kritischen Schriftsteller. Aber Leseland ist abgebrannt. Was gegen geistige Mauern anrannte, geht jetzt ins Leere. Heiße Ware verwandelt sich in kalte Asche. Was früher unzugänglich war, besorgt der Buchhändler jetzt umgehend. Aber wozu noch? An die Preise werden sich auch wohl nur Minderheiten gewöhnen.

Die Devise von der kostendeckenden Produktion hat nun auch die DZB Leipzig eingeholt. Selbst wenn ihr Verlag bei entsprechendem Absatz kostendeckend arbeiten könnte, bliebe die Finanzierung der Einzelanfertigungen für die Bibliothek und die Hörbuchproduktion, die bis dato auf erlesene Sprecher vom Schauspielhaus Leipzig bauen konnte, ungedeckt. Selbst bei einer Behandlung als "förderwürdige Einrichtung" durch Bund und Länder wird es nicht ohne Drosselungen gehen. Immerhin, ein Förderverein ist mittlerweile wenigstens angedacht.

Ihren Bestand bringt die DZB mit ins einig Bücherland. Das sind beträchtliche Kulturwerte, wie uns der gerade erschienene Teil I des Gesamtkatalogs Punktdruck der Bibliothek zeigt. Auf 525 Punktschriftseiten in drei Bänden weist er den Fundus an Belletristik und Kinderliteratur, Lyrik und Dramatik aus.

Verschwindend klein ist der Bestand an Vorkriegsproduktionen. Das ist vor allem dem Luftkriegsinferno geschuldet. Leider gibt der Katalog keine Auskünfte über Verlag und Erscheinungsjahr der übertragenen Bücher. Am dafür nötigen Platz hätte anderweitig gespart werden können, zum Beispiel dort, wo drei Zeilen für die knappen Angaben gebraucht werden:
"Barz, E.:
999, 2
Bde. K.h."

Eine ganze Zeile im Katalog ist jeweils dem Namen von Verfasser oder Herausgeber vorbehalten. War es bei so viel Großzügigkeit nötig, die Vornamen auf einen Buchstaben zu verkürzen? Ratlos frage ich mich, ob der genannte H. Müller etwa der berühmte Heiner M. sein soll und ob die "Irreführung der Behörden" von Jurek oder einem anderen Becker stammt. Bei E. und E. Strittmatter muß sich einer schon auskennen, um sich klar zu sein, daß 18 Titel dem Erwin und nur zwei der Eva zuzuordnen sind.

Wo spärliche Information auf Neugier trifft, wird Aktivität die Folge sein. Da steht im Katalog so ein ?. von Arnim mit einem altmodisch reißerischen Titel "Der tolle Invalide von Fort Ratonneau". Soll das etwa jener Achim sein, der mit den romantischen Brentanos umging? Ich schaue ins Hörbuchverzeichnis des Leipziger Hauses. Da steht nun sehr ausführlich "Ludwig Achim von Arnim". Dann ist ers vielleicht? - Schlag nach im Sachbuch! Und richtig? Unser A. ist der gesuchte Achim. Wenn ich jedoch von einem Buch nicht mehr erfahre, als daß es "26 Bahnsteige" heißt und von einem oder einer gewissen B. Neuhaus stammt und 3 Bde. K.h. füllt, stelle ich besser keine weiteren Fragen oder bestelle die mysteriösen Bahnsteige einfach mal.

Gehe ich an den Gesamtkatalog der DZB statistisch heran, offenbaren sich beeindruckende Superlative. In der Zahl der verfügbaren Ausgaben führt in der Belletristik Theodor Storm mit 40, gefolgt von J.W. Goethe mit 29 und Brecht neben Shakespeare mit je 25. Die 14 Feuchtwanger-Ausgaben entsprechen 117 Punktschriftbänden. Vielfach kann der Leser zwischenVoll- und Kurzschriftausgaben, zwischen Handschrift und Zwischenzeilenpunktdruck wählen. Unter den 16 Tucholskys, die ich gezählt habe, befinden sich je viermal "Rheinsberg" und "Schloß Gripsholm".

Die respektable Büchersammlung in der Gustav-Adolf-Straße ist in 44, jetzt umstrittenen Jahren gewachsen. Ist da nicht Argwohn am Platz? Muß das Profil nicht zwangsläufig ideologisch verformt sein?

Natürlich spiegeln sich 40 Jahre geistiger Spezifik in den Bücherregalen des betreffenden Landes. Für uns liegt darin die Chance, die Geschichte lernend aufzuarbeiten. Der überwiegende Teil des Leipziger Fundus gehört zum gemeinnützigen Kulturerbe. Hierher rechne ich DDR-Autoren wie Franz Fühmann (16mal in Punktschrift), Jurij Brezan (14mal) und Stefan Heym (10 Ausgaben). Präsent ist das deutschsprachige Erbe von Arnold (14) bis Stefan Zweig (20 Ausgaben), von Heinrich (11) bis Thomas Mann (13 Ausgaben), von Wilhelm Busch (18) bis Hermann Hesse (16), von Gottfried Keller (19) bis Anna Seghers (23 Ausgaben).

Natürlich ist hier Verformung feststellbar. Ein E. Johnson aus Schwerin ist zweimal, aber ein Uwe Johnson ehemals aus Mecklenburg, ist keinmal vorhanden. Das schmerzt nicht mehr. Was fehlt, kann ich in anderen deutschen Bibliotheken suchen. So kann ich damit leben, daß in Leipzig nur einmal Alfred Andersch zu finden ist. Dafür kann ich hier 21 Ausgaben des Dänen Martin Andersen-Nexö ausleihen.

Nennenswert ist die Präsenz der Weltliteratur in der DZB. Amado und Balzac sind je 14mal vertreten, Hemingway und B. Traven je 12mal, Zola 16- und Jack London gar 23mal. Der Punktschriftleser findet hier zahlreiche große amerikanische Belletristen des 20. Jahrhunderts stattlich vertreten. Und möglich sind weite Einblicke in nationale Literaturen von Norwegen und Island bis Australien, von China bis Argentinien. Der Leser kann wandeln zwischen Alt- und Neugriechenland, zwischen seltenen Regionen und Herkunftsländern. Mich hat der Katalog angestoßen, endlich mal persische Märchen zu lesen.

Ein großes Plus der Leipziger Sammlung ist der Bestand an russischen und sowjetischen Autoren. 16mal Tschechow, 10mal Dostojewski, ebenso häufig Aitmatow und immerhin 5mal Bulgakow, um nur einige der Großen zu nennen.

Für die DZB war solide Arbeit stets Markenzeichen und Standard. Dahinter bleibt der genannte Gesamtkatalog leider zurück. Kishon hat sich in der Kinderliteratur versteckt. Ich versuche vergeblich nach Dürrenmatts "Physikern" und frage mich, wieso die Leipziger die nicht mehr haben sollen, wenn doch ich sogar damit bestückt bin. Mit dem Alphabet gibt es verschiedene Schwierigkeiten. Eine Buchstabenorientierung am unteren Seitenrand würde die Benutzung erleichtern. Sch. und St. wurden teilweise nach Sy. geführt, aber nicht immer.

Erstmalig hat die DZB ein so umfangreiches Verzeichnis der Totalität ihrer Punktschriftschätze vorgelegt, ohne ideologische Tilgungen, wie es scheint. Schon ihrer beachtlichen historischen Verdienste wegen verdient es die ostdeutsche Zentralbücherei für Blinde, auch unter neuen Bedingungen Rang und Namen behaupten zu können. Mir scheint, ein künftiger Förderverein muß sich dafür einsetzen, daß alle fünf neuen Bundesländer in die Pflicht genommen werden durch verbindliche Formulierung eines gemeinsamen Kulturauftrages an die traditionsreiche Stätte der Literatur für Blinde.

Seit mehr als zehn Jahren hat sich die DZB Leipzig für mich auch als Fenster zur BLISTA bewährt. Das ist eine kleine Geschichte, die ein eigenes Schlaglicht auf größere Geschichte wirft. Wie alle Bibliotheken der DDR unterlag die DZB argwöhnischen Bestimmungen über den Umgang mit Literatur aus westlichem Ausland. Wer mit solcher Literatur umgehen wollte, auch wenn sie nicht gesondert freigegeben war, benötigte dafür einen "Nachweis über den wissenschaftlichen Verwendungszweck", im einschlägigen Volksmund auch Giftschein genannt. Einen solchen Schein für die DZB hat mir mein Chef unbesehen unterschrieben und gestempelt. Damit hatte ich eine Blankovollmacht für die Fernleihe. So streng war die Aufsicht über die Blindenbibliothek wohl doch nun auch wieder nicht. Da war ein Loch im Zaun.

Der Zugang zu den Marburger Bibliotheken via Leipzig hat mir schon frühzeitig geholfen, ein Stück kritischen Abstand zur eigenen Provinz zu gewinnen. Als nach dem Fall der Mauer viele DDR-Kollegen die Lektüre von Wolfgang Leonhards "Die Revolution entläßt ihre Kinder" als schockierende Offenbarung erlebten, hatte ich das schon zehn Jahre lang hinter mir. Es ist eine der besonderen Absurditäten unserer Lage, daß ich als Blinder unter den Bedingungen organisierter geistiger Blindheit einen bestimmten Informationsvorsprung, eine Art Narrenfreiheit haben konnte. Der

kleine Vorsprung ist nun dahin, und das ist auch gut so.

"Es ist, als habe jemand das Fenster aufgestoßen!" Im ersten Augenblick stand ich einigermaßen ratlos vor der gesamtdeutschen Vielfalt von Aufsprechdiensten, Kassettenzeitschriften, Nord-, Süd- und Westdeutschen Blindenbüchereien, Privatinitiativen und Selbsthilfegruppen. Mitunter ernüchtert dann die Überdosis.

Jetzt steht vielleicht auch noch die elektronische Tageszeitung ins Haus. Datenbanken werden sich öffnen. Werde ich dann noch immer das gute alte Punktschriftbuch in die Hand nehmen?

Der Kreis hat sich geschlossen. Wir sind wieder am Anfang.

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