Bequem eingerichtet zwischen ja und aber

Gekürzt erschienen in: "Die Kirche. Evangelische Wochenzeitung", Ausgabe für Vorpommern, 48 (1993), 18. April, Nr. 16, S. 5

Was ist eigentlich geschehen? Wer war ich, und wer bin ich?

Auf dem Weg zu Antworten stoße ich, der ich an der Sektion Marxismus-Leninismus der Ernst-Moritz-Arndt-Universität beschäftigt war, immer wieder auf Bezüge zur Kirche, und es sind ausgerechnet die Synodalen von Greifswald, die mir Gelegenheit gaben, ein Stück weit öffentliche Aufarbeitung meiner eigenen Geschichte zu versuchen. Solche Foren habe ich wirklich vermißt. Meine Selbstauskunft konnte aus Platzgründen nur thesenhaft vorgetragen werden. Der Bitte nach schriftlicher Niederlegung in ebenso knapper Form versuche ich hiermit nachzukommen.

1. Stasi und Metastasi

November 89. In der Wendezeit war nur wenig Willen und Zeit vorhanden, um nach eigenen Verstrickungen zu fragen. Einen kurzen Vormittag saß ich im M.-L-Gebäude, also "auf sinkendem Schiff" mit zwei befreundeten Kolleginnen zusammen. Wir versuchten herauszufinden, was wir wirklich gewußt, und wie wir uns zu diesem Wissen verhalten haben. Wir mußten erkennen, daß es Signale von Unrecht und Gewalt gegen Abweichler gegeben hatte, zu denen wir uns nach einem alten deutschen Muster verhalten haben: Nur nicht weiter fragen!

Befriedigend ist solche Einsicht nicht, doch ist sie eine Minimalvoraussetzung für Lernen aus der Geschichte. Allzu viele scheuen vor öffentlicher Selbstbefragung zurück, weil sie dies vielleicht als entwürdigendes Harakiri mit Unterhaltungswert für Unbefugte betrachten, oder weil sie es gewohnt sind, an einmal getroffenen Entscheidungen festzuhalten, oder weil sie sich in ihrer Identität bedroht fühlen.

Rückblende: 80er Jahre. - "Glück gehabt?"

In den letzten Jahren der DDR war ich mit familiensoziologischen Arbeiten beschäftigt. Ich habe mich dabei schon nach etwas mehr wissenschaftlicher Freiheit gesehnt und mit dem Gedanken gespielt, den M.-L-Verein zu verlassen und mich bei der Studienabteilung der Evangelischen Kirche zu bewerben, ohne Christ zu sein.

Die Verführung ist schon da, sich eine andere, bessere Biographie zu basteln. Ob es praktisch gelungen wäre, ist fraglich. Der Bruch in meiner Biographie, der heute so vorteilhaft sein könnte, wäre der Punkt gewesen, der mich für die Stasi interessant gemacht hätte. Wer in Fühlung kam mit dem Raum, in dem Opposition zu Gange war, geriet in die Interessensphäre der Mielke-Agentur, die sich nur mäßig für brave Schafe interessierte. Nach allem, was ich jetzt weiß, nehme ich an, daß die "Firma" ganz entschieden verlangt hätte, auf dem Laufenden gehalten zu werden.

Für den Staatssicherheitsdienst blieb ich anscheinend uninteressant, weil ich erstens schwerbehindert bin (blind), und weil ich zweitens nur einer von vielen Ideologen, (im Mielke-Originalton "Quatschköppe") gewesen bin. Vielleicht hätten sie mich gerade damit korrumpieren können, daß sie, die, intelligenter und einsichtsreicher waren als die Parteibürokratie, mich endlich einmal ernst genommen hätten mit all meinen Zweifeln und meinem Tatendrang. Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist nur dies: Viele, die sich heute anmaßen, entscheiden zu können, wer der "Systemnähe" zu bezichtigen ist, kehren heute eine Tugend heraus, ohne sich zu fragen, ob sie einfach nur Glück gehabt haben, einfach Glück, nicht in Bedrängnis geraten zu sein, aus der so leicht Verstrickung werden konnte.

2. Ideologie und Wahrhaftigkeit

Meine Lehr- und Vortragsveranstaltungen zum Marxismus-Leninismus kamen häufig besser an als die von anderen. Bei mir gab es mehr Diskurs und Problematisierung. Eine gewisse Narrenfreiheit hatte unsereiner schon. Wesentlicher aber ist: Ich hatte mich bequem zwischen ja und aber eingerichtet. Ich habe Grenzen respektiert und Punkte bei den Leuten gesammelt, indem ich einfach etwas weniger dogmatisch, etwas weniger geistlos war als der Durchschnitt.

Kritische DDR-Marxisten beriefen sich gern auf das Marxsche Credo, wonach alle Verhältnisse umzuwerfen seien, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Mir dämmerte schon, daß wir durch unser Wirken nicht Zeugnis ablegten für dieses Credo, doch habe ich mich nicht von der Furcht befreit, die ich davor hatte, von der eigenen Herde verstoßen, weggebissen zu werden.

Oktober 89. In der Umbruchszeit steckte ich voller Energien und Projekte. Mit meinen Illusionen von der Reformierbarkeit der SED ging ich in der Zeit der "Montagsdemonstrationen" zu einem Treff mit Kirchenleuten, um ihnen ins Gewissen zu reden, damit sie die Massenkundgebungen deeskalieren, denn einmal würde der erste Stein geworfen (von wem auch immer), und dann wäre die Gewalt von niemandem mehr zu stoppen gewesen. Die SED brauche aber Zeit bis zu einem außerordentlichen Parteitag, um sich zu erneuern. - Unheilige Einfalt!

April 90. Es waren Kirchenleute, die meinen freien geistigen Fall der dann folgenden Monate etwas bremsten. Mit meiner ganzen Familie war ich zu Ostern 1990 von den Jugendsynodalen der Kirchenprovinz Sachsen aufs Schloß Mansfeld eingeladen zu einer Diskussion über Gewalt in der Gesellschaft. Was wir dort erleben durften an tolerantem Umgang zwischen allen Anwesenden, war sehr aufbauend für uns. Ich hoffe, daß es meinen Kindern gelingt, an solchen Erfahrungen festzuhalten, daß sie stets die Unverletzlichkeit der Seele, wie des Körpers jedes Menschen respektieren werden.

3. Konkurrenz oder Kooperation?

April 92. Im neuen Deutschland ist mir Unerwartetes widerfahren, woran in der DDR nicht im Entferntesten zu denken war: Ich wurde gefragt, ob ich eine Festrede zur Jugendweihe halten wollte. Ich habe diese Herausforderung gern angenommen. Für ein menschliches Zusammenleben ist es unerlässlich, daß sich Heranwachsende als Glieder einer Menschengemeinschaft in der ewigen Abfolge von Generationen, im Kontinuum von Geben und Nehmen begreifen. Zu allen Zeiten gab es dafür Rituale der Initialisierung. Das Verschwinden der Jugendweihe würde ein Vakuum hinterlassen, in das die Kirchen nicht mehr zu stoßen vermögen. Der Lack der Zivilisation ist so dünn, daß es schon viel bedeutet, gegen den drohenden Kältetod der Menschlichkeit zusammenzurücken.


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