Nachklang eines Liedes

Wer sich aus seinem Alltag freimacht, um dem Ruf zu einem Seminar zu folgen, in dem es um ein Phänomen geht, das in der DDR Singebewegung und im Westen engagiertes Lied genannt wurde, der lebt vermutlich mit einer eigenen Vergangenheit, die von eben diesem Phänomen mitgeprägt ist. Wir tragen diese Vergangenheit in uns und sind doch auf merkwürdige Art von ihr abgeschnitten. Was ich damit meine, bringt wohl kaum etwas besser auf den Punkt als ein Lied aus den frühen 70er Jahren und die Betrachtung eines Journalisten im Jahre 1992. Das Lied ist aus dem Osten, der Journalist aus dem Westen. Das Lied ward seinerzeit auch in Richtung Westen gesungen und der Journalist Mathias Greffrath hatte mindestens ein Ohr im Osten.

Lied vom Vaterland
(Text: Reinhold Andert; Musik: Reiner Böhm):

1. Kennst du das Land mit seinen alten Eichen,
das Land von Einstein, von Karl Marx und Bach.
Wo jede Antwort endet mit dem Fragezeichen,
wo ich ein Zimmer habe unterm Dach.
Wo sich so viele, wegen früher, oft noch schämen.
Wo mancher Vater eine Frage nicht versteht,
wo ihre Kinder ihnen das nicht übelnehmen,
weil seine Antwort im Geschichtsbuch steht.

Refrain:
Hier schaff ich selber, was ich einmal werde.
Hier geb ich meinem Leben einen Sinn.
Hier hab ich meinen Teil von unsrer Erde.
Der kann so werden, wie ich selber bin.

2. Das ist das Land mit seinen Seen und Wäldern,
das kleine Land, das man an einem Tag durchfährt.
Wo man was wird, auch ohne seine Eltern,
doch auch Beziehungen sind manchmal etwas wert.
Hier steht die Schule und mein Klassenzimmer,
das riecht heut immer noch nach Terpentin.
Von Mathe hab ich heut noch keinen Schimmer,


doch vor den Lehrern kann ich meine Mütze ziehn.

3. Das ist das Land, wo die Fabriken uns gehören,
wo der Prometheus schon um fünf aufsteht.
Hier kann man manche Faust auf manchen Tischen hören,
bevor dann wieder trotzdem was nicht geht.
Wo sich auf Wohnungsämtern Hoffnungen verlieren.
Wo ein Parteitag sich darüber Sorgen macht.
Wo sich die Leute alles selber reparieren,
weil sie das Werkzeug haben, Wissen und die Macht.

4. Das ist das Land mit dem Problem im Winter,
das Züge stoppt und an die Fenster klirrt.
Wo wir viel reden über später und auch Kinder,
und wo ein Cello spielt, bevor es leise wird.
Hier lernte meine Mutter das Regieren,
als sie vor einem Trümmerhaufen stand.
Ich möchte dieses Land nie mehr verlieren.
Es ist mein Mutter- und mein Vaterland.

Mathias Greffrath: Ein altes Lied. Oktoberklub, Ost-Identität und ein Land, das niemals untergeht.
In: © Wochenpost Nr. 25 vom 11.6.1992, S. 3. zit. nach Kirchenwitz, Lutz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR: Chronisten, Kritiker, Kaisergeburtstagssänger, Dietz Verlag Berlin Verl. GmbH, 1993, S. 60

"Ich habe das Lied damals gern gehört. Es steckte eine Art frischen Patriotismus' darin, den es im Westen nicht gab ... Daher wohl die Rührung - über das kleine klare Lied, das der Oktoberklub im Ost-Radio sang. Das kleine Land, das man an einem Tag durchfährt: ein Land, in dem aus Fabrikantenvillen Kinderheime namens Steppke wurden, wo der Betrieb Lebensort war und kein Platz zum Jobben, wo die Fabriken uns gehören, wo der Prometheus schon um fünf aufsteht. Eigentlich schön, möchte man meinen, eine Geselllschaft, die noch ein paar Ziele hatte außer Bausparvertrag, Lacoste-Hemden und Selbsterfahrungsgruppen ... Das Land aus dem Lied gibt es nicht mehr ... Aber warum rührt mich, nach all den Enthüllungen, das kleine Lied noch immer? ... Vielleicht geht es bei diesem Lied vom Vaterland gar nicht um die DDR. Da klafft ein Loch, die Sehnsucht nach einem Vaterland, das allen abhanden gekommen ist. Auch denen im Westen."

 

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Erstellt am 25.11.1998HTML-Fassung im April 2002Zuletzt geändert am 20.06.2004