Bernd Kebelmann

STUMMFILM FÜR EINEN FREUND

 

Tragikomödie im Dorfkinosaal

 

In seiner stummen Titelrolle: Robert Orlando

alias Don Quichote, alias Christoph Kolumbus

 

Wer das, was schön war vergisst, wird böse.

Wer das, was schlimm war vergisst, wird dumm.

Erich Kästner

 

Im Grunde sind alle Ideen falsch und absurd.

Es bleiben nur die Menschen, so wie sie sind.

Ich bin von jeder Ideologie geheilt.

Emíle Ciuran

 

VORSPANN

Minoische Labyrinthe kaum zu ordnender Aktenordner, die zufällig nicht vernichtet wurden, bilden seit Jahren die begehrte, viel besuchte papierne Nekropolis bürokratisch entsorgter Scheinexistenzen, hinter denen vergessene Schicksale lauern, rechtlose Wesen, die nicht zur Ruhe kommen, weil ihnen Unrecht geschah. Die Stummheit dieser Toten drängt jeden, der noch Erinnerungen an versunkene Realitäten besitzt, zu eigenem, freiem Umgang mit historisch genannten Fakten, mit den zahllosen ungefragten oder hartnäckig schweigenden Zeugen.

Was aber gilt das Gedächtnis an überlebte Vergangenheiten, wenn die verlockende Fülle der lange vermissten, zu spät entdeckten, kaum noch zu fassenden Träume, Wünsche und Sehnsüchte wartet.

Robert, mein Freund, du bist tot.

Zwölf Jahre sind seitdem vergangen. Die Explosion der Ereignisse ließ dieses Jahrzehnt zum Jahrhundert werden, wo unter erdrückenden Wohlstandsbergen, zwischen Ver‑ und Entsorgungsängsten alles Erinnern verschüttet liegt, kaum noch zu orten, nicht mehr zu retten, es sei denn, in zeitgemäßen, surrealen Bildern. In ihnen beginnt die Wirklichkeit unserer Phantasie, letzte Chance für jemand wie Robert, Gerechtigkeit zu erlangen.

Wer es einmal gesehen hat, wird sich gewiss erinnern: im Vor‑ und Abspann der alten Filme, die wir damals häufig vor Augen hatten, erschien als erstes und letztes auf jeder Spule der stumme Spruch des Orakels, der Anfang und das Ende aller flimmernden Illusionen, rote und schwarze, nicht mehr zu deutende Zeichen, die Schrift einer anderen Welt.

TREFFPUNKT DORFKINO

Du wirst es nicht mehr erleben, daß die Wahrheitskommission tagt, nicht in diesem Land, schon gar nicht hier, im gewöhnlichsten Industrievorort am staubigen Ostrand der Stadt, wo Die Kneipe, seitdem das Bier fließt, den trefflichen Namen TREFFPUNKT trägt, und sich über die Jahre, die du jetzt fort bist, kaum verändert hat: ein paar neue, buntere Werbepappen, davor die bekannten Gesichter, namenlos, anonym, noch weniger freundlich als sonst. Sonst ist es der alte Filz, auf den der Wirt Hieroglyphen kritzelt, dass selbst die Schreiber der Pharaonen daran verzweifelt wären. Er schaut dich misstrauisch an. Die Hautfarbe stimmt, die Aussprache auch, die Kleidung verspricht, du wirst zahlen. Für Fremde ist hier kein Platz. Es sei denn ‑ ein Grundstücksgeschäft vielleicht? Mit dir? Kein Geschäft zu machen. Du denkst dir deinTeil, dankst für das Bier, schiebst dich an Bäuchen, am Tresen vorbei, verschwindest im Saal dahinter. Und du träumst, dass es hier noch Kino gäbe, Dorfkino, ganz wie früher.

...

 

Aus dem Nachwort

Eigentlich bedürfen Texte der schönen Literatur keiner Erklärung, weder eines Vor- noch eines Nachwortes. Nun ist der vorstehende Text zweifelsohne der schönen Literatur zugehörig, doch sind Zeit und Ort der Handlung weniger schön...

Rüdersdorf, wo der Autor Bernd Kebelmann geboren ward und wo er seine Protagonisten agieren läßt, liegt am Ostrand von Berlin und wäre mit seiner landschaftlichen Einbettung in Seen und Wald und Heide idyllisch zu nennen, wären da nicht auch die Narben des Kalksteinabbaues in die Landschaft geschrundet...

Aggressiv staubig aber wurde es mit der Erfindung des Zements Ende des 19. Jahrhunderts...

Das Rüdersdorfer Phosphatwerk war eben jenes hinter Industrienebel, dreckverkrusteten Fassaden, Schlammbergen und graugefärbten Baumskeletten versteckte Chemiefabrik, in der der Autor von 1971 bis 1983 als Chemiker arbeitete und in der er die retrospektive Handlung des Textes angesiedelt hat. Zum Staub kam nun die Säure von oben noch hinzu und verätzte und zerfraß, was den Staub bislang überlebt hatte. Die Sonne, so oft beschworen als Symbol des lichten Fortschritts hin zum Kommunismus, schwamm fahl hinter einer Staubfahne, die flog, wohin der Wind sie blies – und in den letzten Lebensjahren der DDR blies der Wind, woher er auch kam, ihr immer ins Gesicht...

Umweltschutz, wir lasen davon in dem Text und auch in der Biografie des Autors, war in solch degenierter Gesellschaft des Teufels, vom Klassenfeind inspiriert, subversiv, mindestens ein Störfaktor, den es zu neutralisieren galt...

Ultima ratio der altersstarren Ideologen gegen jegliche Art des Widerwortes oder gar der Widerständigkeit war ihr auffällig unauffälliger Knüppel, die Staatssicherheit, oder auch:: Schild und Schwert der Partei...

Doch wurde die Stasi die Geister, die sie verfolgte, nicht los, im Gegenteil, je eifriger und professioneller sie die Widerspenstigen mit allen Mitteln zu minimieren, auszuschalten und zu zersetzen trachtete, desto mehr wurden es mit der Zeit. Der Antifaschist und Kommunist obert Havemann aus Grünheide beispielsweise stellte in den sechziger und siebziger Jahren unerlaubte Fragen, und obwohl man ihn drei Jahre auf seinem Grundstück mit einem personellen Aufwand in Kompaniestärke arretierte, stellte der nicht nur unverdrossen weiter seine Fragen, sondern zeugte selbst in der erzwungenen Isolation weitere Glaubensabtrünnige unter der Jugend des Landes, die dann in den achtziger Jahren die oppositionelle Szene mit ihren Gruppen für Menschenrechte, Umweltschutz, beidseitige Abrüstung und Demokratie mächtig belebten und in den Massendemonstrationen des Herbstes 1989 obsiegten.

Einer der runzligen Zauberlehrlinge des Ministeriums für Staatssicherheit taumelt auch durch diesen Text: in der Rückblende als lockender und drohender Stasi-Major im ärmlichen Glanze seiner Macht, nach der Wende als fahler Schatten seiner selbst in einer Kneipe, die grau blieb trotz der Wende auch in Rüdersdorf...

Der Held dieses Textes, Robert, hat den Autor in praxi offenbar so beeindruckt, daß er ihm diesen Text postum widmen mußte. Das ist sehr verständlich, kam doch dieser Typus Mensch in der Realität äußerst selten vor. Es ist der Typus des idealistischen Kommunisten, der, einem edlen Ritter gleich, die rote Fahne hochhält und festhält an den Idealen der Idee trotz der längst verkommenen Praxis, und der dadurch zum Ritter von der traurigen Gestalt (besser vielleicht: von tragischem Gehalt) wird. Fiktional gab es den Typus öfter als realiter, vor allem in der DDR-Literatur, von Erwin Strittmatter bis hin zu Ulrich Plenzdorf: als leuchtende, nahezu  prometheische Projektion auf einen Plafond, der den unaufhaltsamen Niedergang eskamotierte. Was diesem Robert mit seiner Lust auf Reform, Veränderung und Verbesserung widerfuhr und nach Lage der Dinge unabwendbar widerfahren mußte, ist menschlich einfühlsam geschildert und dennoch nicht glorifiziert. Das ehrt den Autor und hebt den Text.

Mir ging es bei der Lektüre des Textes so, als habe der den berüchtigten Bitterfelder Weg konsequent zu Ende beschritten. Allerdings ganz anders als geplant...

Was als proletarisch verklärte und verklärende Arbeiterliteratur und zwanghaft optimistische, affirmative Produktionsprosa 1959 von Ulbricht und seinen Literaturideologen unter der plumpen Losung „Greif zur Feder, Kumpel“ in Szene gesetzt worden war, hat nun über den argen Weg der Erkenntnis und den gewiß bitteren Desillusionen in diesem Text zu einer wohltuend ruhigen, historischen und poetischen Distanz gefunden, die nach den verratenen Idealen und den daran zerbrochenen Idealisten fragt, und zwar ohne  - weitere Wohltat! - den ostalgischen Unterton der Klage und der ortsüblichen Jeremiade über die garstigen Zumutungen der Freiheit.

 

Joachim Walther                                                                                  Grünheide, Februar 2001

 

 


Zum Autor:

Bernd Kebelmann wurde 1947 in Rüdersdorf bei Berlin geboren, er studierte von 1966 bis 1971 Chemie in Greifswald und arbeitete von 1971 bis 1983 als Diplom‑Chemiker in Forschung und Umweltschutz. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne. Einer chronischen Augenerkrankung folgte die langsame Erblindung. Kebelmann arbeitet seitdem als Autor. Seit Sommer 1989 wohnt die Familie in der Nähe von Dortmund.

In den sechziger und siebziger Jahren entstanden erste Gedichte und Kurzgeschichten, kritische Texte zum Umweltschutz.

Heute schreibt Kebelmann neben Gedichten und Prosa Feature und Hörbilder für den Rundfunk. Mit eigenen Texten führt der Autor szenische Lesungen durch, häufig mit dem Solocel­listen Sonny Thet aus Berlin. Diese Programme und seine Projektarbeiten führen ihn quer durchs Land. So inszenierte er in Zusammenarbeit mit Museen und Galerien in Berlin, Dresden, Hamburg, Duisburg, Dortmund, München und Salzburg die TASTWEGE, "Dunkelausstellung" von Skulpturen zum hapti­schen Begreifen zeitge­nössischer Bildhauer­kunst mit "Übersetzung der Formensprache" in literarische Texte. Sein europaweites Projekt LYRIKBRÜCKEN führt seit 1993 europäische blinde Autoren zu mehrsprachigen Lesungen zusammen, wobei bisher dänische, ungarische, spanische, flämische, polnische und tschechische Texte zu hören waren. 

Buchveröffentlichungen:

"Menschliche Landschaften, 100 Zentrierte Gedichte", Berlin 1994

JAZZ, Hommage á Caspar David Friedrich, zwei Kunstbücher, Leipzig und Viersen

"Requiem für Gran Partita, tragisches Stück aus der Spätzeit der DDR", Berlin 1996

"Ein-Stein", 2. Gedichtband, Berlin 1997

"Silicon beach", Prosagedicht in "Common sense", Halle/S 1998

"Insel wo Träume ankern", ein Hiddensee-Buch, Altstadt-Verlag Rostock 1999 

„Stummfilm für einen Freund“, Dahlemer Verlagsanstalt Berlin 2001.

Für das vorliegende Buch erhielt Kebelmann 1999 ein NRW-Autorenstipendium.

 

Rundfunkarbeiten:

„Licht und Himmel, Wald und Strom, Erkundungen in Johannes Bobrowskis poetischer Landschaft“ (gemeinsam mit U.Grober), ORB/WDR 1994, NDR, SR2 u.a.

„Aus dem Schuhkarton, Erich Fried zu Besuch in der DDR; In terview mit I.Q.“, WDR3 1996

„Alpträume auf der Orgelbank, Sterilisation eines Blinden im dritten Reich“, SDR3 1996

„Ein Maulwurf aus dem Oderbruch, zum Spätwerk Günter Eichs“, Deutschlandfunk 1997

„Wo die Riesen mit Kieseln spielen,“, Reisebild aus Schottland, Bayrischer Rundfunk 1998

„Das Fliegenspiel, Parabel und Parodie über die MACHBARKEIT“, WDr3 1999

„Tastwege, Ein Exkurs über Hand und Haut“, Deutschlandradio Berlin 2000

und weitere Hörbilder und Kurzgeschichten.

 

Zurück zum Infotext über Bernd Kebelmann!