Hätte Jens Sparschuh unsere Einladung gleich vom Tisch in den Papierkorb gefegt, es wäre ihm nicht mal übel zu nehmen, denn über mangelnde Nachfrage seiner Person kann er sich wirklich nicht beklagen. Aber er war sich ja auch nicht zu schade, höchst selbst die Hörbuchfassung seines wohl erfolgreichsten Romans "Der Zimmerspringbrunnen" auf Band zu lesen, nicht etwa für ein kommerzielles Audiobook, sondern für die Berliner Blindenhörbücherei der Zivil- und Kriegsblinden. Ist das als Dank an die Kriegsblinden für den renommierten Hörspielpreis zu verstehen? - Vielleicht fragen wir ihn in Boltenhagen.
Was jetzt folgt, ist eine Fülle von Informationen über Jens Sparschuh. Zum Zwecke besserer Orientierung sind Querverweise gesetzt. Hier erst einmal eine kleine Übersicht.
Wider Gedankenlosigkeit - Dankrede des Bremer Förderpreisträgers Jens Sparschuh
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Jens Sparschuh wurde am 14. Mai 1955 in Chemnitz geboren und wuchs ab 1960 in Berlin auf.
Den Schriftsteller S. nahm man offiziell zur Kenntnis, als in Berlin (Ost) sein
erster Roman "Der grosse Coup - Aus den geheimen Tage- und Nachtbüchern des
Johann Peter Eckermann" (1987) erschien, mit dem er nach Kritikermeinung Goethe
vom Sockel der versammelten Dichter und Denker stiess. 1989 folgte mit
"KopfSprung - Aus den Memoiren des letzten deutschen Gedankenlesers" ein zweiter
Roman, in dem S. die Geschichte des Rudolf Rypschinski erzählt, der zu Grabe
getragen wird und anschliessend auf Befehl des Instituts für marxistische
Seelenkritik, an dem er vor seinem Tod beschäftigt war, reinkarniert. Mit
deutlichen Anspielungen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit liess S. seinen
Helden die Reflexionen über Alltag, Philosophie, Leben und Unsterblichkeit
erzählen. Nach Ansicht von Peter Will
(Morgen, 22.9.1990) konnte man diese Geschichte auch als einen "vergnüglichen, geistreich-ironischen Exkurs über Seele und Unsterblichkeit verstehen".
1993 legte Sparschuh den Roman "Der Schneemensch" vor, in dem er die fiktive Geschichte eines begabten jungen Wissenschaftlers entwirft, "der auf der Spur eines Phantasmas zu einem menschlichen Wrack wurde, zu einer Art existenziellem Fötus schrumpfte, desorientiert, sprachlos, ohne Erinnerung und Hoffnung", wie Heinrich Vormweg (SZ, 6.6.1993) die Thematik zusammenfasste. Einen "humorvollen Epilog auf die vergangene Kultur der DDR" formulierte Sparschuh nach Meinung der Frankfurter Rundschau (18.11.1995) mit seinem Heimatroman "Der Zimmerspringbrunnen", den Freitag (17.11.1995) als "satirische Geschichte vom verschwundenen Land" las. "Zerstreute Prosa", so der Untertitel, fasste Jens Sparschuh in dem 1997 erschienenen Band "Ich dachte, sie finden uns nicht" zusammen, mit dem er nach Einschätzung der Süddeutschen Zeitung (10.12.1997) "alles andere als DDR-Nostalgie" schrieb, aber "eine im Westen allzu voreilig verabschiedete Denk- und Wahrnehmungsform zur literarischen Tugend" machte. Um Lavater, eine der schillerndsten Persönlichkeiten der Sturm- und Drangzeit, und einen namenlosen, im Gegenwärtigen verhafteten Icherzähler, der Lavater und auch dem seltsamen Freitod von dessen Schreiber Enslin auf der Spur ist, dreht sich Sparschuhs Roman "Lavaters Maske" (1999), mit dem er sich nach Kritikermeinung einmal mehr als feinsinniger, kunstvoller Erzähler zu erkennen gab. Der Leser kann sich auf "hohem Niveau" köstlich amüsieren, schrieb die Hannoversche Allgemeine Zeitung (13.10.1999).
2001 wurde der erfolgreiche Roman "Der Zimmerspringbrunnen" von Peter Timm ("Go Trabi go", "Manta, der Film", "Rennschwein Rudi") verfilmt. Der Film hält sich nur bedingt an die literarische Vorlage.
Dazu einige Rezensionen:
Wohlwollende Besprechung in der "Süddeutschen Zeitung
Die Kritik in "EPD-Film"!
Die Filmkritik der TAZ!
Jens Sparschuh ist mit der Soziologin Dr. phil. Vera Sparschuh verheiratet und hat zwei Töchter - Olga (geb. 8.4.1979) und Laura (geb. 20.11.1984).
Die Elbe. von Jörn Vanhöfen, u. a. G. Kiepenheuer, Leipzig (2000) Gebundene Ausgabe Preis: DM 49,90
Der grosse Coup. von Jens Sparschuh Kiepenheuer u. W., Köln (1996) Taschenbuch Preis: DM 18,80
Ich dachte, sie finden uns nicht. Zerstreute Prosa. von Jens Sparschuh Kiepenheuer u. W., Köln (1997) Taschenbuch Preis: DM 16,80
KopfSprung. Aus den Memoiren des letzten deutschen Gedankenlesers. von Jens Sparschuh Morgenbuch Vlg., Bln. Gebundene Ausgabe Preis: DM 16,80
Lavaters Maske. von Jens Sparschuh Kiepenheuer u. W., Köln (1999) Gebundene Ausgabe Preis: DM 38,00
Parzival Pechvogel, der kleine Papagei. Cassette. Radiogeschichten für kleine Leute. von Jens Sparschuh Universal Family Ent., H. (1999) Hörkassette Preis: DM 12,90 Parzival Pechvogel. ( Ab 8 J.). Ein Kinderroman. von Jens Sparschuh Nagel u. Kimche, Frauenf. (1994) Gebundene Ausgabe Preis: DM 23,80
Parzival Pechvogel. ( Ab 8 J.). Ein Kinderroman. von Jens Sparschuh Fischer-TB.-Vlg.,Ffm (1998) Taschenbuch Preis: DM 9,90
Der Schneemensch. von Jens Sparschuh Kiepenheuer u. W., Köln (1993) Gebundene Ausgabe Preis: DM 38,00
Die schöne Belinda und ihr Erfinder. ( Ab 8 J.). von Jens Sparschuh Nagel u. Kimche, Frauenf. (1997) Gebundene Ausgabe Preis: DM 22,80
Die schöne Belinda und ihr Erfinder. ( Ab 8 J.). von Jens Sparschuh Fischer-TB.-Vlg.,Ffm (2001) Taschenbuch Preis: DM 12,90
Stinkstiefel. ( Ab 8 J.). von Jens Sparschuh Nagel u. Kimche, Frauenf. (2000) Gebundene Ausgabe Preis: DM 22,00
Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. von Jens Sparschuh btb/Goldmann Vlg., M. (1997) Taschenbuch Preis: DM 14,00
Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. von Jens Sparschuh Kiepenheuer u. W., Köln (1995) Gebundene Ausgabe Preis: DM 29,80
Inwendig. von Jens Sparschuh Sonderbestellung H. Boldt, Winsen (1998) Taschenbuch Preis: DM 8,00
Lavaters Maske. von Jens Sparschuh btb/Goldmann Vlg., M. (2001) Taschenbuch Preis: DM 18,00
Titel: Ostliterat Jens Sparschuh
Der Berliner Schriftsteller ist zum Sprecher der Deutschen Literaturkonferenz gewählt worden und wird in dieser Funktion Nachfolger von Friedrich Dieckmann
Jens Sparschuh ist bekannt für die Ironie in seinen Texten, In Zukunft wird der Berliner Schriftsteller auch ernste Dinge sagen müssen - Sparschuh ist zum Sprecher der Deutschen Literaturkonferenz gewählt worden. Der Verbund entstand 1991 aus der Literaturkonferenz, zu der sich 1986 der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, der Deutsche Bibliotheksverband, das P.E.N. Zentrum und der Verband deutscher Schriftsteller zusammengeschlossen hatten. Ihr Ziel sieht die Literaturkonferenz darin, die Belange der Literatur gemeinsam in der Öffentlichkeit sowie gegenüber Behörden und Institutionen zu vertreten. Sparschuh versteht sich als Vertreter der ostdeutschen Literatur und will den Blick der Literaturkonferenz mehr nach Osteuropa lenken. Er hat 5 Jahre in Leningrad Philosophie und Logik studiert.
Ein Ziel seiner Arbeit sieht er auch darin, die Lage der Autoren und der kleinen Verlage zu verbessern. Hier scheinen seine Möglichkeiten aber eher begrenzt zu sein.
Jens Sparschuh wurde 1955 in Karl- Marx-Stadt geboren. Nach seinem Studium in der Sowjetunion promovierte er 1983 an der Humboldt-Universität Berlin. Doch sein befristeter Vertrag an der Universität wurde nicht verlängert, weil der Betreuer seiner Doktorarbeit in den Westen gegangen war. Als Märtyrer hat er sich trotzdem nicht empfunden, er entschloss sich, als freier Schriftsteller zu arbeiten. Auf einzelne Genres liess er sich nie festlegen und schrieb für Erwachsene und für Kinder Hörspiele und Geschichten, Erinnerungen und Reflexionen. 1987 erhielt er für seinen Eckermann-Roman »Der grosse Coup« das Anna-Seghers-Stipendium der Akademie der Künste der DDR. Ab 1986 konzentrierte er sich stärker auf Hörspiele, die zum Teil nur im Westen gesendet wurden. 9990 erhielt er den Hörspielpreis der Kriegsblinden für das Hörspiel »Ein Nebulo bist du«, das in diesen Tagen bei »Der Audio-Verlag« als CD erschienen ist. Als grösster literarischer Erfolg in den letzten Jahren wird in den meisten Feuilletons die Schelmengeschichte »Der Zimmerspringbrunnen« angesehen. Die Theaterversion dieser Satire über ost-west-deutsche Befindlichkeiten läuft seit zwei Jahren erfolgreich im Maxim-Gorki-Theater Berlin. Sparschuh selbst ist sein Kinderbuch »Parzival Pechvogel« allerdings wichtiger. Der Autor hat zwei Töchter und sieht deshalb in Büchern für Kinder eine besondere sprachliche Herausforderung.
Autor: Henneberg, Nicole Titel: Don Quichotte zieht gen Westen
Physiognomik, Marktwirtschaft, Räuberpistole: Jens Sparschuhs Roman "Lavaters Maske" Tür den Humor, als das umgekehrt Erhabene, gebe es nur Torheit und eine tolle Welt schrieb Jean Paul in der Vorschule der Asthetik. Der Humor hebe, ungleich dem Spassmacher mit seinen Seitenhieben, keine einzelne Narrheit heraus, sondern er erniedrige das Grosse, um ihm aber, anders als die Parodie, das Kleine an die Seite zu setzen. Und er erhöhe das Kleine, um ihm, im Unterschied zur einsam hochfliegenden Ironie, das Grosse an die Seite zu setzen und so Hohes und Niederes zu vernichten. Diese zutiefst melancholische Definition des Humors mit seinen Abgrenzungen vom bloss Komischen und Lächerlichen eignet sich gut als Ariadnefaden durch einen Roman, dessen Stärken wesentlich im gelungenen Spiel mit Erzähltechniken der Ironie liegen. Lavaters Maske ist flott und klug geschrieben; und wie der Held des Romans, ein junger, ehrgeiziger Autor, auf der Suche nach einem Romanstoff immer wieder die Orientierung in den Grenzgebieten zwischen Realität und Fiktion verliert, ist äusserst vergnüglich zu lesen. "Woran arbeiten Sie eigentlich momentan?" will der Literaturagent eines Tages von seinem hoffnungsvollen Autor wissen; die Veröffentlichung des letzten Buches liegt schon eine Weile zurück. Die überraschende, prompte Antwort lautet: "über Lavater." Mit dieser Notlüge könnte das Gespräch erst einmal beendet sein, käme nicht ein Filmproduzent auf der Suche nach einem packenden Drehbuch ins Spiel. Und so, mit viel, viel Geld vor Augen und einem Vorschuss in der Tasche, macht sich der überrumpelte Schriftsteller bereitwillig an die Arbeit. Zunächst, im Lavater-Archiv in Zürich, lässt sich auch gut alles an: Er entdeckt eine drehbuchtaugliche Geschichte im Nachlass Lavaters, dessen Bericht über den Selbstmord seines Schreibers Enslin ; scheinbar ein Glücksfall. Doch Enslin entpuppt sich als depressiver Zwangscharakter, dessen Lebensgeschichte einen unheilvollen Sog auf den Ich-Erzähler aus- übt: Er beginnt, sich in dieser Biografie zu verlieren; Alpträume und Halluzinationen stellen sich ein. Ein immer dichter werdendes Knäuel von Verstellungen, Notlügen und Missverständnissen bestimmt bald seinen Alltag. Ständig geben- Leute vor, ihn zu kennen, die er noch nie gesehen hat; und schliesslich will ihn auch noch die karrierebewusste Mitarbeiterin eines Personalberatungsbüros als Physiognomiker anheuern, um mit seiner Hilfe endlich die entscheidende, grenzenlos zu vermarktende Gesichtsformel zu finden. Das erscheint dem Erzähler in seinem Wahn aber schon gar nicht mehr abwegig, denn an manchen Tagen glaubt er, der als Lavater verkleidete Enslin zu sein. Diese Teile des Romans sind allerdings "die am wenigsten überzeugenden; zu lose und willkürlich sind die Handlungsfäden verknüpft. Um der Spannung willen vermischt der Autor Handlungsfäden verschiedener Genres: ein bisschen Agentenstory, ein Schuss Liebesatenteuer; und als Stichwortgeber fungiert Lavater mit seinen Physiognomischen Frogmenten. Gesichter nämlich spielen in Sparschuhs Erzählung nicht wirklich eine Rolle, es sei denn als Elemente sarkastischer Schilderungen mit Comic- Effekt. Der Rest des Lavater-Erzählstranges, die Exzerpte des Erzählers, gehörten ihrer Form nach eher in ein Arbeitsjournal als in einen Roman. Doch die Geschichte des Ich-Erzählers, dem, entgegen seinem eigenen schriftstellerischen Credo, das am besten zu beschreiben gelingt, was er durch und durch kennt, das leben als Autor nämlich, entschädigt für manches an den Haaren Herbeigezogene. M
Manchmal kopfschüttelnd, manchmal so debil nickend wie Waldi, der rehbraune Kunststoffdackel seiner Kindheit, beobachtet der Erzähler sich selbst; amüsiert sich kindlich und gleichzeitig verschmitzt über eigene und fremde Missgeschicke. Auf der anderen Seite lässt ihn seine Schüchternheit zu einem Meister der kleinen, anrührenden Gesten zwischen Komik und Melancholie werden, denen gerade aus ihrer Selbstvergessenheit eine überraschend grosse Wirkung erwächst, sei es auf dem Podium, sei es im Gespräch; und ihre unprätentiöse, lakonisch genaue Schilderung im Text machen sie besonders einprägsam. Dass der Ich-Erzähler aus dem ehemaligen Ost-Berlin stammt, verrät, bis zu einer schicksalhaften Lesung, vielleicht nur seine rückhaltlose Hingabe an die Forderungen und Verlockungen der Au- ssenwelt. Er hat vorderhand nichts zu verlieren und nichts zu verteidigen: er habe, wie er sarkastisch bemerkt, seine Ost-Biografie gerade aufatmend an der Garderobe abgegeben; und die Spielregeln des Westens erkunde er gerade. Was ihn also einzig bewegt, ist das Bemühen, beruflich und menschlich mitzuhalten; und so klammert er sich in unübersichtlichen Arbeits- und sonstigen Situationen an die Devise: mehr Schein als Sein. Das muss schief gehen. Sein Filmdrehbuch verkommt zur kruden Räuberpistole, und er selbst fühlt sich als amtierender Wühlischheimer Stadtschreiber immer irrer und wirrer. Auch Lesungen quälen ihn, deren Ritual immer das Gleiche ist: ein unerbittliches, also ganz durchschnittliches Publikum in einer Kleinstadtbuchhandlung bombardiert den auf dem Podium Sitzenden, der vorher alles versucht hat, um Zeit zu schinden, gnadenlos mit indiskreten Fragen. Zuerst will man, therapeutisch-behutsam, alles über seine DDR- Vergangenheit wissen ("Fällt es Ihnen schwer, darüber zu reden?"), und dann kommt, als dickes Ende: "Warum schreiben Sie eigentlich'?" Noch in der DDR erschien 1989 Jens }Text nicht OCR-lesbar} Angestellten, west- d. h. markttauglich zu werden; aber auch seine geniale Idee, die untergegangene DDR als auf und abtauchendes Atlantis-Herzstück eines Zimmerspringbrunnens zu konstruieren, kann ihn nicht vor dem privaten Absturz retten, obwohl das lächerliche Ding von Rostock bis Berlin ein Verkaufsschlager wird! }Text nicht OCR-lesbar} vorausgesetzt, er bleibt bei sich; denn seine Ironie, alle Arten zwischenmenschlicher Dünkelhaftigkeit in ihre Details zerpflückend, befördert Erkenntnis auf subversive und zugleich unterhaltsame Weise. Jens Sparschuh: Lavaters Maske. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999, 264 Seiten, 38 DM.
Forsche ich in mir nach, was mich überhaupt auf diese fixe Idee gebracht hatte, so war das wohl mein Erstaunen darüber, wie manche Kritiker in aller Selbstverständlichkeit darauf zu spekulieren scheinen, dass sie das letzte Wort behalten. Sie schreiben, ausgestattet mit durchaus blühender Phantasie, irgend etwas hin- und verlassen sich treuherzig darauf, dass Autoren vornehm - oder weil es ihnen einfach die Sprache verschlägt - dazu schweigen. Aber leider, auf mich ist da wirklich Verlass: ich bin vornehm und manchmal verschlägt es mir einfach die Sprache. So einfach ist das. Und basta! Dabei, dieses Räsonieren hätte ich mir eigentlich sparen können, wäre mir nur früher ein Briefsatz Thomas Manns untergekommen, ich las ihn neulich irgendwo: "Wir finden in Büchern immer nur uns selbst." Was wunders also, dass manche nichts, aber auch gar nichts findenandere aber so unendlich viel? Das ist der feine, nicht gerade kleine Unterschied. Was mich besonders freut: alte Ost- West-Rechnungen scheinen dabei nicht mehr aufzugehen. "Wie reagieren denn die Leute drüben auf so was?" Das werde ich neuerdings immer wieder bei Lesungen gefragt, und zwar hüben wie drüben, in Ost und West. Nach dem ersten Rausch der Vereinigungsnacht und dem ernüchternden Morgen danach stehen sich die lange verfeindeten Stammesteile nun anders gegen- über. Das erste Entsetzen ist gewichen. Zwar hat man, auf beiden Seiten, Schlimmes und Schlimmstes befürchtet, doch auch diese Erwartungen wurden ja noch weit übertroffen . . . Nun aber ist unwiderruflich der Alltag angebrochen, d.h., man muss sich in der Grenzsituation "deutschdeutscher Alltag" zurechtfinden. Undsei es manchmal auch nur notgedrungen und widerstrebend - man beginnt, sich für den anderen zu interessieren. Eine andere Wahl bleibt einem ja auch gar nicht. Aber - was für eine Chance ist das! Indem man den anderen zu verstehen sucht, stiftet man ja nicht nur karitativ und ins Blaue hinein ein bisschen Toleranz in der Welt; nein, man kann auf einmal auch das Andere in sich selbst entdecken, das Elend und die Grösse, all die - Gott sei Dank oder leider - nie Wirklichkeit gewordenen Möglichkeiten, die begrabenen Träume " . Man hat die Chance, sich von der Willkürherrschaft eigener Vorurteile, Verblendungen und Illusionen zu befreien. Ein bisschen zumindest, und von einigen. Dieses Nachdenken, diese allerhöchste, nie ganz zu erreichende Gedankenfreiheit aber wird durch keinen noch so perfekten Polizeistaat unterbunden (ich kann das beurteilen, ich bin ja von Geburt an Ostexperte!); verhindert wird Gedankenfreiheit vielmehr - und vor allem - durch schlichte, stupide, alltägliche Gedankenlosigkeit. Hier in Bremen kann ich nicht einen Preis entgegennehmen ohne ein Wort des Dankes an meinen Freund und Kollegen Günter Demin, Redakteur von Radio Bremen. Vorausschauend hatte er schon 1980 mit dem Abbau der Mauer begonnen. Er schlug zunächst einfach kleine Löcher hinein und machte sie nach und nach immer durchlässiger. Zum Beispiel für die Stücke eines ihm damals unbekannten jungen Ostberliner Autors. Demin schreckte nicht einmal vor dem Umstand zurück, dass dieser Autor gerade ein Philosophiestudium in Leningrad absolviert hatte, an der Shdanov-Universität!, also biografisch, um es vorsichtig zu sagen, nicht ganz dem Anforderungskatalog an einen Dissidenten entsprach. Aber in dickschädeliger Weise eigensinnig, schien Demin das sogar noch besonders zu reitzen! Und? Sie sehen ja, wohin das alles geführt hat. Die Mauer ist dann tatsächlich gefallen. Und vor Ihnen stehe nun ich. Dankeschön.
Frankfurter Rundschau; vom 31.01.1996 / 26
Erstellt am 20.02.2001 | Zuletzt geändert am 21.02.2005 |