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Datum: 05.01.2002

05.01.2002

»Politische Klasse« der PDS
Historisches, Argentinisches, Luxemburgisches, Gysisches
 
Von Dr. Friedrich Wolff

Wieder einmal durften wir Historisches erleben. Die Berliner Koalition von SPD und PDS sei, so sagte Gysi, so schrieb das ND, ein solches Ereignis. Das ND erklärt, warum. »Ein Rückblick auf fast ein Jahrhundert getrennter, gegensätzlicher, vielfach sogar verfeindeter Geschichte mag die Tragweite gegenwärtigen Muts begreifbar machen.«

In der Präambel des Programmentwurfs der PDS heißt es: »Die Ursprünge unserer Partei liegen im Aufbruch des Herbstes 1989 in der DDR...« Und jetzt, der Programmentwurf ist noch nicht beschlossen, liegen die Ursprünge fast ein Jahrhundert zurück, ist die Partei an die Stelle von KPD/SED getreten.

Als die KPD gegründet wurde, sagte Rosa Luxemburg, »...heute erleben wir den Moment, wo wir sagen können: Wir sind wieder bei Marx, unter seinem Banner«. Die PDS sagt in ihrem Programmentwurf unter IV von sich: »Ihr Eintreten für einen demokratischen Sozialismus ist an keine bestimmte Weltanschauung gebunden...« Also nichts von Marxismus oder gar Leninismus. Allerdings ein bißchen Weltanschauung möchte schon sein, nur eben eine andere: In einem Land ohne Gott will Gysi jedenfalls nicht leben. Das ist eine Auffassung, wie sie nur als Wahlkampfargumentation begreifbar ist, mit Liebknecht und Luxemburg hat sie nichts gemein. Andere mögen oder sollen an Gott glauben, man selbst glaubt nur noch an Demokratie plus Marktwirtschaft. Liebknecht und Luxemburg hätten der PDS daraufhin untersagt, ihren Namen vor sich her zu tragen. Sie hätten die KPD noch einmal gegründet. Vielleicht hätten sie einen Prozeß um das Karl-Liebknecht-Haus geführt – oder eher nicht? Vielleicht wären sie nicht so rechtsstaatsgläubig.

Und die SPD, sie ist auch nicht mehr die Partei Wilhelm Liebknechts und August Bebels. Noch nach 1945 verkündete die SPD den »Sozialismus als Gegenwartsaufgabe«. (Miller/Potthoff: Kleine Geschichte der SPD. 7. Auflage, Bonn 1991, S. 182). Das ist Schnee von gestern. Diese Partei spürte schon früher die »Notwendigkeit, ideologischen Ballast abzuwerfen«. (ebenda, S. 203) Am 15. November 1954 beschloß die SPD das Godesberger Programm. Miller/Potthoff sagen von ihm: Das Bemerkenswerteste am Godesberger Programm war sein Verzicht auf jede weltanschauliche oder theoriegeschichtliche Festlegung« (ebenda, S. 205). »Der Terminus ›Sozialismus‹ wurde nicht aufgenommen« (ebenda). »Damit war die Voraussetzung geschaffen, das von ihr angestrebte Ziel erreichen zu können: eine von verschiedenen Schichten wählbare ›Volkspartei‹ zu schaffen« (ebenda S. 207). Mit anderen Worten, die SPD nach 1954 hatte mit der SPD vor 1933 und vor 1914 nur noch den Namen gemeinsam.

Die PDS sagt: Damit sind die Ursachen der fast ein Jahrhundert währenden Feindschaft beseitigt. Ja, so ist es, die PDS ist der SPD im letzten Jahrzehnt eilig nachgefolgt, hat den Abstand von fast 50 Jahren eingeholt – jedenfalls was ihre »politische Klasse« anbelangt. Wo ist da »Mut« für eine Koalition erforderlich? Eigentlich wäre die Zeit für einen neuen Vereinigungsparteitag gekommen.

Historisch ist nicht die Berliner Koalition, historisch ist die Tatsache, daß es in Deutschland keine große marxistische, konsequent antikapitalistische Partei mehr gibt. Die Koalition ist nur Ergebnis und Symptom für die Preisgabe der Ideen von Liebknecht und Luxemburg, von Marx und Engels durch die PDS, richtiger: durch ihre politische Klasse.

Die politische Klasse in der PDS argumentiert, man müsse Politik für heute und hier machen. Sozialismus sei eine Vision, eine Utopie, die heute und hier nichts bringe. Die Frage ist, welche Politik bringt heute und hier etwas?

Das ND hilft hier weiter. Es kommentiert die Ereignisse in Argentinien: »Der argentinischen Bevölkerung stehen die schwersten Zeiten noch bevor. Von der Regierung, wer immer sie auch bilden mag, kann sie nichts erwarten...« Das ist das Problem. Für die Bevölkerung in Deutschland und Berlin genau wie in Argentinien gilt gleichermaßen: »Von der Regierung, wer immer sie auch bilden mag, kann sie nichts erwarten...« Recht hat das ND. Die PDS tut aber so, als könne die Bevölkerung von einer rot-roten (die Leute müssen farbenblind sein) Regierung etwas anderes erwarten als von einer einfarbig schwarzen. Die Verhältnisse sind nicht so. Wir müssen die Schulden abbauen, d.h. wir müssen den Banken ihren Verdienst (schönes Wort) zukommen lassen, koste es, was es wolle. Alles unter dem Motto: »Damit sich Leistung wieder lohnt.«

Was also wäre Politik für heute und hier? Sie müßte wie jede Politik mit der Erkenntnis der realen Situation beginnen. Eben mit der Erkenntnis des ND über die Lage der argentinischen Bevölkerung: »Von der Regierung, wer immer sie auch bilden mag, kann sie nichts erwarten.« Da unterscheiden sich Deutschland und Argentinien durch nichts voneinander: »Wir sind alle Amerikaner«. Die Regierungen, die von Parteien gebildet werden, die sich in dem bestehenden kapitalistischen System bewegen, können und wollen nichts bewirken. Von ihnen ist nichts zu erwarten.

Wer Politik für heute und hier machen will, muß von dieser ND-notorischen Tatsache ausgehen. Wer so tut, als könne er soziale Gerechtigkeit, demokratische Teilhabe, Frieden und Gewaltfreiheit, Arbeit für alle usw. in diesem System schaffen, der träumt oder lügt. Er führt jedenfalls seine Wähler irre.

Was die CDU im Ahlener Programm 1946 erkannt, was die SPD nach 1945 als Tagesaufgabe proklamiert und was KPD/SED zielstrebig verfolgt hat, ist auch heute der einzige Ausweg aus Massenarbeitslosigkeit und dem Weg in eine globale Katastrophe: Sozialisierung. Das muß eine sozialistische Partei sagen, sonst trägt sie den Namen zu Unrecht, sonst übt sie Etikettenschwindel.

Wenn wir Liebknecht und Luxemburg ehren werden, sollten wir nicht vergessen, daß jener in Berlin die sozialistische Republik ausrief, die Ebert (laut Haffner) verraten hat, und daß Paul Levi seine Einleitung zur nachgelassenen Schrift Rosa Luxemburgs über die russische Revolution mit Worten schloß, die auch der DDR gewidmet sein könnten: »Die Bolschewiki haben etwas in den Händen gehabt: den größten moralischen Fonds, den die Arbeiterklasse je gesammelt hat. Das wird keiner bestreiten, der die Jahre 1918, 1919, 1920 miterlebte. Wir haben es schon in anderem Zusammenhange beklagt, wie von diesem Fonds unnütz und nie wiederbringlich geopfert wurde. Würde dieser Fonds ganz verloren gehen: Es mag Leute geben, die das leichten Herzens nehmen. Wir glauben, daß die Arbeiterschaft der ganzen Welt seelisch daran verarmen würde und daß die Arbeit von vielleicht Jahrzehnten nötig sein würde, um wieder aufzubauen, was 1918 war.« (Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden, Berlin 1990, S. 231)

So dachten damals Sozialisten. Und heute? Bleibt uns wirklich nur noch der Wunsch, in einer Gesellschaft zu leben, in der Gott da ist? Oh Gott!

Dr. Friedrich Wolff ist Mitglied des Ältestrates der PDS

junge Welt, 05. Januar 2002