© Klaus Ungerer in Frankfurter Allgemeine Zeitung; vom 20.09.2000 / 219 SEI S. 63

 

Das fliegende Klassenbewußtsein Radio-Tagebuch
Sieben-Sonnen und Sieben-Monde oder Die Geschichte von Balthasar und Blimunda

Pater Laurenzo geht voran. Dem Baltasar, der Blimunda sowie auch uns, den Hörern. Er führt uns in einen Schuppen oder eine Scheune, so genau weiß man das ja nie im Hörspiel, und enthüllt, was wir hier nie erwartet hätten - eine Flugmaschine. Große Ohren machen wir da, große Augen machen die Liebenden, große Erklärungen macht der Pater. Von einem Eisenskelett ist die Rede und von Weidengeflecht, von Schwengel, Segel, Ruder, Blasebalg und allerlei Kugeln, rund wie die Seifenblasen unserer Träume, rund auch wie der Globus, den verwegene Weltumsegler aus der fernen Realität heimholten in das Reich menschlicher Vorstellung. Dorthin sollen wir Hörer nun auch die Flugmaschine verfrachten und mit ihr die ganze Geschichte von Baltasar und Blimunda, von Kirche und König, von Armut und Not, Liebe und Tod, von Forscherdrang und Übersinn. Erstmals begegnete sie uns als Jose Saramagos Roman "Das Memorial", nun wird sie als Hörspiel in der Fassung und Regie von Heinz von Cramer erzählt - "Sieben-Sonnen und Sieben-Monde oder Die Geschichte von Baltasar und Blimunda".

Immerhin auf historischer Ebene sind der Handlung Grenzen gesetzt: Portugal im aufsteigenden achtzehnten Jahrhundert.

König Joäo V. ordnet den Bau eines prachtvollen Klosters an, den fleißige Mönche sich erbetet haben. Dank ihrer Unterstützung erst, so scheint es, konnte die Königin ihrem Volke den dringend benötigten Thronfolger schenken. Nun springt es in die Baugrube, massenhaft und nicht ganz freiwillig, doch dem menschlichen Willen stellt niemand und nichts sich entgegen, besonders dem des Königs nicht. Also wird gesprengt, geschippt, geschleppt und gestorben, denn schnell soll es gehen, und die Wertschätzung namenloser Leben überläßt der Fürst etwaigen Umstürzlern, Romanautoren und Nobelpreiskomitees späterer Zeiten.

Baltasar (Heiko Senst) ist ein Mann aus dem Volke, er ließ seine linke Hand im Krieg, gewinnt aber das Herz einer liebenden Frau, genauer gesagt: Er bekommt es geschenkt. Denn wo Männer einander das Äußerste abverlangen, da gibt die Frau aus freien Stücken, und wo Männer wie Pater Laurenzo (Christoph Finger) Flugmaschinen konstruieren, um in neue Gefilde vorzustoßen, hat eine Frau wie Blimunda (Naomi Krauss) schon viel zuviel gesehen. Sie kann durch Dinge und Menschen hindurchblicken, eine Fähigkeit, auf die sie gerne verzichten würde, denn ihr Glaube geht darüber verloren: an den Sinn des Lebens und des Sterbens. Für Pater Laurenzo allerdings macht sie ihren Durchblick nutzbar. Kleine Wölkchen gilt es einzusammeln, die in den Menschen sich befinden und die der Flugmaschine zum Sprung in die Lüfte verhelfen. Diese Wölkchen sind die bereits erwähnte menschliche Willenskraft, ohne den jede Kopfgeburt eine bliebe. Der erdachte Apparat muß gebaut, der vermutete Erdball umsegelt, das märchenhaft-klassenbewußte Historienepos zu Papier geblutet werden. Wenn an dieser Fantasie eine weitere sich entzündet, kommt sogar einer und macht ein Hörspiel daraus. Sägt den Roman auseinander und besieht sich die Einzelteile, nimmt dieses und verwirft jenes, schraubt und schrubbt und macht und tut, sucht die Segel seines Gefährts schließlich mit dem Odem der Klänge und Stimmen zu blähen, damit das Stück aufsteige über den Alltag. Was passiert?

Dasselbe wie mit der Flugmaschine. Mal hebt sie ab, dann landet sie unsanft an unbekanntem Orte, mal kommt sie nicht recht los vom Boden, um sodann überraschend abzuheben - und irgendwann verschwindet sie einfach. Wir am Radio fliegen mit, vorbei an blasierten Potentaten und verschlagenen Klerikern, an wackeren Arbeitern, zwitschernden Vögeln, brennenden Scheiterhaufen und unverzagten Herzen. Daß die Konstruktion eine Spielfilmlänge durchhält, verdankt sie weniger ihrer Handlung als den Klangbildern, die sie malt.

Sehnsuchtsvolle Gesänge wehen uns an, dumpfe Hornstöße, Pauken und der Aufruhr unterdrückter Seelen, eine wohlige Düsternis, die wir dem Mittelalter und Sean Connery vorbehalten glaubten und die nicht gänzlich ohne Hoffnung auskommen muß. Baltasar und Blimunda sind da, ihre Liebe ist stärker als der Tod, Pater Laurenzo ist da, der sie traut, der sie fliegen läßt und eine Öllampe anzündet für sie. Auch wir zünden ein Licht an, denn es wird früh dunkel. Nun kommt wohl der Winter wieder - Hörspielzeit.

 

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Erstellt am 20.04.2002Zuletzt geändert am 21.04.2002 22:50