© PAUL INGENDAAY in Frankfurter Allgemeine Zeitung; vom 27.01.2001 / 23 SEI S. 45

 

Nur die Zimmerdecke leiht ihr offenes Ohr
Triumph einer Trilogie: Der portugiesische Schriftsteller Josê Saramago hat auf einer großen Lesetournee sein meisterhaftes Werk "Die Höhle" vorgestellt, den ersten Roman nach dem Nobelpreis

MADRID, im Januar. Stellen wir uns Franz Kafka als Zeitgenossen vor. Gewiß wäre er berühmt, vielleicht hätte er sogar den Nobelpreis erhalten. Aber auch wenn er es ablehnen würde, in der "Harald-Schmidt-Show" aufzutreten - um eine öffentliche Präsentation seines neues Buches käme er nicht herum. Er würde den Rummel der Fotografen und Journalisten über sich ergehen lassen, ein Podium besteigen, wo drei Gesprächspartner seiner harrten, und auch das musikalische Vorspiel (Geige und Klavier) gleichmütig ertragen. Dann aber müßte Kafka von seinem neuen Roman sprechen, den Mitarbeiterinnen seines Verlags soeben an die Journalisten verteilt haben, und was dann? Wie würde er sein Werk zusammenfassen und in eine zitierbare Meinung verwandeln?

Würde er erklären, daß er Bürokratien nicht mag? Für mehr Verständnis in der Familie werben? Würde er eine gerechtere Justiz fordern oder Solidarität mit Landvermessern?

Etwas Vergleichbares passiert in diesen Tagen dem Kafka-Bewunderer Josê Saramago. Kaum lag sein neuer Roman "Acaverna" (Die Höhle; erschienen bei Editorial Caminho, Lissabon), sein erstes Werk nach der Zuerkennung des Nobelpreises vor zwei Jahren, in den Buchläden, begann für den achtundsiebzigjährigen Portugiesen ein Werbemarathon von furchterregenden Ausmaßen. Die ersten Stationen: Portugal, Mozambique, Angola, Brasilien. Dann kam auch schon die spanische Übersetzung heraus, angefertigt von seiner Frau Pilar del Rio ("La caverna", Alfaguara), worauf der Autor nach Argentinien und Peru weiterreiste und schließlich nach Spanien zurückkehrte, um sich in Madrid, Barcelona, Bilbao und Saragossa zu zeigen. Es war in Madrid, beim Büchersignieren vor Hunderten von Lesern, daß der geduldige, stets höfliche Saramago von den nächsten Stationen der Werbetournee erzählte: Rom, Paris, Mexiko-Stadt.

Die Verlagswelt verlangt von Autoren, daß sie als Darsteller ihrer selbst Meinungen produzieren und nichts dabei finden, sie bis zum Überdruß zu wiederholen. Auch Saramago macht gute Miene zum öden Spiel und läßt sich der Öffentlichkeit als zuverlässig ideologiekritisches Verlautbarungstier präsentieren. Sein Werk bleibt dabei allerdings auf der Strecke. Denn nichts, was der Nobelpreisträger gegen Globalisierung und den Kapitalismus als solchen sagte, läßt sich als "Botschaft" seines Romans ausgeben, sowenig wie Kafka auf die Ehrenmedaille der Landvermesser-Innung hoffen durfte.

Josê Saramago, schrieb die spanische Presse, habe mit seinem Roman Platons Höhlengleichnis aktualisiert. Gütiger! Saramago hat nichts dergleichen getan. Man braucht keine Zeile Platon zu kennen, um die Geschichte des Töpfers Cipriano Aigor zu verstehen. Cipriano Aigor ist vierundsechzig, Witwer und spürt schon das Alter in den Knien. Von dem kleinen Dorf aus, in dem er mit seiner Tochter Marta wohnt, beliefert er ein gigantisches Einkaufszentrum in der dreißig Kilometer entfernten Stadt.

"Das Zentrum", wie das Großkaufhaus genannt wird, in dem Privilegierte auch wohnen dürfen, ist sein einziger Kunde.

Als man ihm mitteilt, daß die regelmäßige Lieferung von Schüsseln, Tellern und Tassen auf die Hälfte reduziert werden soll, ahnt der Töpfer, daß für seine Ware das Ende gekommen ist. Vierhundertfünfzig Seiten lang dreht sich Josê Saramagos Roman um die Frage, was ein unbedeutender Gewerbetreibender, den die große Industrie für überflüssig erklärt, tun kann, um seine Existenz zu retten.

Wie der einzelne von den ihn umgebenden Kräften bedrängt und fast zermahlen wird, wie er sich auflehnt und störrisch nach Auswegen aus einer inhumanen Situation sucht, davon handelten schon Saramagos beeindruckende Romane "Die Stadt der Blinden" (deutsch 1997) und "Alle Namen" (1999), mit denen "Die Höhle" eine Trilogie bildet "wider Willen", wie der Autor sagt. Alle drei Bücher des Spätwerks erwecken den Eindruck von Parabeln. Land, Stadt oder Dorf bleiben anonym, und reale Verhältnisse sind hinter den diktatorischen Institutionen, mit denen die Figuren es aufnehmen müssen, allenfalls zu ahnen: Saramagos Dörfer sind die Welt. Die Regeln, nach denen die Obrigkeit in seinen Büchern verfährt, werden nie begründet, und das Fundament ihrer Autorität ruht in vorgeschichtlichem Dunkel: die Autorität eines Staates, der eine rätselhafte Epidemie bekämpft ("Die Stadt der Blinden"), eines Personenzentralregisters, das über Gedächtnis und Erinnerung verfügt ("Alle Namen"), oder eben einer allmächtigen Schaltstelle, die das Konsumverhalten einer willfährigen Herde steuert.

Didaktischer Literatur droht bekanntlich ein papierner Tod.

Leser lassen sich ungern belehren, und was nach Modell oder Bausatz aussieht, darum machen sie eher einen Bogen. Josê Saramagos Schreiben hat nun eine bemerkenswerte und überaus seltene Eigenschaft: Es erzieht den Leser zur Lektüre, während er liest. Wie schon in früheren Büchern gibt die auf den ersten Blick sperrig anmutende Textoberfläche der "Höhle" eine Geschichte von atemberaubender Spannung frei, zu der paradoxerweise auch räsonierende Abschweifungen und die gespielte Bürokratenpedanterie des Erzähltons beitragen.

Dieser Ton ist keine Rollenprosa; es ist der Ton, in dem alle Opfer, Verlierer und Außenseiter bei Josê Saramago reden, Menschen mit dem Rücken zur Wand. Und genau das macht die Spannung aus: Wir lernen diesen Cipriano Aigor von innen und außen kennen, seine Fähigkeiten und seine Grenzen, und mit ihm kalkulieren wir die Chancen, den Gegner zu überlisten. Bei jedem neuen Schritt denken wir: Ja, so könnte es gehen, wenn nicht das Schicksal kommt und dich endgültig zu Boden wirft. Danach sieht es zunächst leider aus. Cipriano Aigor und seine Tochter starten eine Großproduktion von handkolorierten Tonfigürchen (ein Eskimo, eine Krankenschwester, ein Clown), mit denen sie die Gunst des "Zentrums" zurückgewinnen wollen. Nachdem sie Enzyklopädien gewälzt, Material gekauft und wochenlang den uralten Töpferofen befeuert haben, folgt die Nachricht, eine Kundenumfrage zu dem neuen Produkt sei negativ ausgefallen.

Bald darauf geben Vater und Tochter ihr Häuschen auf und folgen Martas Mann, der im "Zentrum" zum Sicherheitsbeamten mit Wohnrecht befördert worden ist, in seine kleine Wohnung im 34. Stock. Und hier, in einem rauchfreien, hundefreien, vollklimatisierten Wohnklotz, der ausgewählte Konsumenten von der Wiege bis zum Grab betreut, macht Cipriano Aigor überraschende Entdeckungen, die ihn unverhofft in einen Widerstandskämpfer verwandeln.

Natürlich gibt es mehrere Arten, den Roman "Die Höhle" zu lesen, und wer partout nicht ohne Platon auskommt, wird sich den Philosophen hineindenken dürfen; ganz abwegig ist die Idee ja nicht, die Neonfassaden der Warenwelt stellten jene neue Scheinhaftigkeit dar, hinter der die Menschen, ihre Gefühle und ihre Bedürfnisse unsichtbar werden. Aber diese Erkenntnis wäre ziemlich dürftig, und zu ihrer Illustration brauchte es keinen Roman. Insofern saß der Kommentator des Kulturmagazins von "El Mundo" seinem eigenen politischen Reflex auf, als er den törichten Satz schrieb, Saramago solle doch einmal seinen "ideologischen Chip" wechseln.

Denn Romane, die die Bezeichnung verdienen, funktionieren anders. Sie machen uns zu Komplizen weit jenseits unserer politischen Überzeugungen, und sie verkünden nicht lauthals, wo sie ankommen wollen.

Eines der auffälligsten Merkmale von Saramagos Stil ist die Rhetorik der Selbstbefragung und des Disputs. Seine Figuren können so elend sein, daß sie sogar Zwiesprache mit der Zimmerdecke halten. Nichts darf vorausgesetzt werden, weil die Helden dieser Bücher ständig in Gefahr sind, von ihren Lebensumständen überrollt zu werden.

Diese Gefahr hat nichts von Inszenierung, sie ist das, was Saramago in der gegenwärtigen Welt allenthalben sieht: die ganz reale Möglichkeit, an den Rand gedrängt, abgewickelt und vergessen zu werden. Nur auf den ersten Blick mutet es seltsam an, daß der Mbekennende Kommunist Saramago mit einem biblischen Ernst schreibt, wie die moderne Literatur ihn kaum noch aufbringt.

Doch "Die Höhle" ist schon deshalb ein lichteres Buch als die Vorgänger, weil die Gespräche zwischen Vater und Tochter oder Vater und Schwiegersohn - dargeboten in Saramagos kompaktem Dialogstil ohne Punkt und Fragezeichen - tatsächlich ein Ziel haben, nämlich eine Gemeinschaft gegen einen seelenlosen Widersacher zu schmieden. Eine Witwe gehört noch dazu, die zu dem verwitweten Töpfer paßt, und ein zugelaufener Hund. Mit so einer Truppe erkämpft man keine Siege, aber zur Flucht reicht es gerade noch. Der lange Weg dorthin ist die eigentliche Mitte dieses Romans: Angst, Selbstzweifel, Pessimismus - und ihre Überwindung.

Die begeisterte Aufnahme von Saramagos Roman in Spanien spricht dafür, daß nicht nur die luftig geschriebene Massenware ihr Publikum findet. Die Startauflage von "La caverna", siebzigtausend Stück, war innerhalb von acht Tagen vergriffen, und auch die rasch nachgedruckten dreißigtausend Exemplare dürften weg sein, bevor der Winterschlußverkauf zu Ende ist. Im Frühjahr 2002 erscheint der Roman bei Rowohlt auf deutsch.

 

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Erstellt am 20.04.2002Zuletzt geändert am 21.04.2002 22:58