Prozesse des Zweifels

© Der Tagesspiegel; vom 02.08.2001 / S. 3

 

Er hat eine radikale Abrechnung mit der DDR geschrieben. Jetzt gibt es ein zweites Buch von Rolf Henrich, es geht um einen Mauerprozess. Als Anwalt hat er selbst einen Grenzgeneral verteidigt. Aber eigentlich hält er solche Verfahren für sinnlos.

Gerechtigkeit? Darum geht es nicht. Es geht um Schuld, es geht um Sühne, es geht um Rache. Es geht um die Zeit.

Wir reden über die Mauer. Rolf Henrich kann dazu viel sagen. Er hat gerade ein Buch geschrieben, sein zweites. Eine Erzählung über einen jener "Mauerprozesse", von denen sich so viele Leute Gerechtigkeit erhofft hatten - und von denen alle enttäuscht wurden. ,Außervielleicht die Rechtsanwälte", sagt Rolf Henrich. Er ist Rechtsanwalt Er hat selbst einen "Schreibtischtäter' verreidigt, hat dessen Stratmaß heruntergehandelr.

Fangen wir mit dem Gurbenglas an. Seit einer Woche steckt es nicht mehr in der Erde. Das Gurkenglas, das Rolf Henrich in der Silvesternacht 1987/88 eingegraben hatte. Vor seinem Haus im Wald bei Frankfurt/Oder, zwischen Zaun und Birke klafft nun ein ein Meter tiefes Loch, In dem Gurkenglas befindet sich das Zweitmanuskript der DDR-Abrechnung "Der vormundschaftliche Staat", Autor: Rolf Henrich, unglaublich gut verdienender Rechtsanwalt in Eisenhüttenstadt seit 1972, SED-Genosse seit 1965, seit Erscheinen des Buches im Frühjahr 1989 einer der prominentesten Dissidenten des Landes, seit der Wiedervereinigung wieder gut verdienender Rechtsanwalt in Eisenhüttenstadt.

Das Manuskript im Glas: zwei schmale Rollen Durchschlagpapier, beschrieben mit einer klapprigen Erika-Schreibmaschine, beschrieben mit einem Text, von dessen historischer Bedeutung Henrich noch heute überzeugt ist: "Wäre das Buch eher gedruckt worden, wäre die Wiedervereinigung möglicherweise anders verlaufen."

Ein bisschen Gewalt im Umsturz wäre gut "für die Hygiene der Volksseele" gewesen. Das ZK-Gebäude der SED hätte man doch ruhig mal stürmen können - wenn da bloß nicht immer diese betroffen lächelnden Bartträger mit den grünen Schärpen "Keine Gewalt" herumgestanden hätten. Das sagt Rolf Henrich ganz cool. Ergenießt die Verblüffung des Zuhörers. Er, der auch betont: "Der Rechtsstaat ist ein hohes Gut. Ein hohes Gut." Wenn Henrich Dinge besonders ernst meint, wiederholt er sie gerne.

Als Rolf Henrich vor einem Jahr mit den anderen Gründern des Neuen Forums den Nationalpreis bekam, wandten sich einige Mitstreiter von damals an ihn und fragten mit einiger Entrüstung: "Sag mal, ist das wahr? Du hast vorm Gericht einen Grenzgeneral verteidigt?" Da waren sie wieder, die guten Menschen. Die, die zuerst moralisch argumentieren.

Henrich argumentiert sachlich. Nur sachlich: "Dies ist ein Rechtsstaat, und da muss jeder verteidigt werden.Jeder." Ein Anwalt, der bei einem Mauertäter moralische Skrupel hat, sei doch das Cleiche wie ein Chirurg, der kein Blut sehen mag.

Wie kam Rolf Henrich denn dazu, einen General zu verteidigen, dem 1998 vor dem Landgericht Frankfurt/Oder der Prozess gemacht wurde, weil er ein paarJahre lang für die Aufstellung und Pflege der Selbstschussanlagen an der Grenze zuständig war? "Ganz einfach: Man hat mich gefragt, und es hat mich interessiert." Eigentlich beschäftigt er sich kaum mit strafrechtlichen Fällen. Kleine und mittlere Betriebe sind es vor allem, die Henrich in Wirtschaftsdingen vertritt.

Im Fall des angeklagten Generalleutnants Waldemar Seifert bekam der Verteidiger eine Riesenmenge penibel sortierter Unterlagen der Anklage zur DDR-Grenze ins Haus geliefert, 17 Ieitz-Ordner deutsche Geschichte. "So was lässt man sich doch nicht entgehen", sagt der Mann, für den es gewiss Wichtigeres als die DDR-Vergangenheit gibt, der aber die Herausforderung sucht, den Zweifel, das Uneindeutige. Er wühlte sich durch den Aktenberg, studierte die bereits gelaufenen Verfahren gegen Mauerschützen und "Schreibtischtätef', sah, welche Anstrengungen die bundesdeutsche Staatsanwaltschaft unternahm, um den Angeklagten nachzuweisen, dass sie gegen DDR-Gesetze verstoßen hatten, indem sie im DDR-Staatsgefüge ihren Dienst versahen.

"Nullum crimen eine lege - Kein Verbrechen ohne Gesetz" heißt die entsprechende Juristenweisheit; die Henrich, derjungenhafte 57-Jährige, mit genießender Betonung zitiert. Das heißt: Wo eine Tat erfolgt - so schlimm sie auch sei -, die nicht durch ein Gesetz als Verbrechen deklariert ist, da darf sie auch nicht als Verbrechen bestraft werden. Auch nicht hinterher, wenn die Gesetze andere sind. "Sie glauben doch nicht; dass es in der DDR Gesetze gab, die den Funktionären und Soldaten die Erfüllung ihrer Dienstpflicht verlroten.", sagt Henrich streng. Mindestens so streng, wie in dem Augenblick, als er den Interviewer verbessern muss. Der fragte: ,Doch es sind doch Menschen an der Grenze umgebracht worden. Muss ein Mord niCht Verurteill werden . . ." Henrich runzelt die Stirn: "Entschuldigung: Von Mord spricht kein Gericht. Dazu fehlt die Heimtücke. Es gab ja die Schilder ,Lebensgefahr' an der Grenze. Dass geschossen würde, war jedem klar. Deshalb geht es um Totschlag. Nur um Totschlag."

In der Zeit, als Henrichs Mandant im DDR- Verteidigungsministerium für die Selbstschussanlagen zuständig war, starben durch ebenjene Gerätschaften vier Menschen, einige wurden schwer verwundet. Beihilfe zum Totschlag lautete die Anklage des bundesdeutschen Staatsanwalts, kurz zuvor war in Potsdam ein NVA-General in einem ähnlichen Fall zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden. Rolf Henrich verteidigte seinen Mandanten gut: Nur ein Jahr Haft aufBewährung. Der 62-jährige Ex-General durfte wieder nach Hause ins Vogtland, seinen Geschäften nachgehen.

Recht? Alles für die Öffentlichkeit also. Gerechtigkeit? Sowieso nicht - man frage nur die Ver- stümmelten und die Hinterbliebenen. Recht? Ach was - diese abenteuerlichen Juristischen Konstruktionen fernab jeder rechtshistorischen Reflexion: "Das Recht kann man nicht dazu nutzen, um Dinge nachzuholen, die in der Revolution verpasst wurden. lesen Sie mal bei Kant nach."

Rolf Henrich wohnt mit seiner Frau im Wald, in einem Schleusenwärterhäuschen. Allein ein neuer Kamin aus Eisen und Glas gibt einen Hinweis auf die elfjahre alte neue Westwelt. Einen Fernseher gibt es hier nicht, dafür in einer Ecke einen kleinen Tisch mit vielen bunten Steinen drauf.

Rolf Henrich lebt weit weg von der Öffentlichkeit. Da kann man sich so seine Gedanken machen, darüber, was diese "Schauprozesse light" eigentlich waren, darüber, was man der Öffentlichkeit hier wirklich geboten hat. Für Henrich ging es gerade nicht um historische Aufarbeitung oder gar um Sühne - dazu seien die Justizdebatten gänzlich ungeeignet gewesen. "Es ging um die Zeit, um ein unsinniges Autbegehren gegen die Zeit" Eben darin sieht er das Wesen der Rache. Schlimme Dinge sind geschehen, das ist lange her.

Wer nun Genugtuung sucht, indem er diese Dinge und die Schuldigen hervorholt, sie noch einmal möglichst nahe zusammenbringt, der versuche, die Situation von damals sozusagen zu simulieren, der lehne sich auf gegen das Vergehen, gegen die Zeit. Ein aussichtsloser Kampf.

"Herabsetzendes Nachstellen" nennt Henrich das. Den Opfern sei damit am allerwenigsten geholfen, "Genugtuung finden die so garantiert nicht, ganz im Gegenteil."

Was aber dann? Muss man nicht etwas tun? Ob nun Mord oder Totschlag - muss so etwas nicht bestraft werden? Rolf Henrich, der so gerne schnell antwortet, der so glasklar nachweisen kann, was alles nicht geht, wo die Fehler im System stecken, dieser Rolf Henrich schweigt jetzt. Und die kleine Pause scheint beinahe unendlich. Aber dann fasst er sich und ist wieder ganz im rhetorischen Muster: "Ich weiß es nicht, Ich weiß es nicht ! " Wenn er es so sagt, dann meint er: Man weiß es nicht. Man kann es nicht wissen.

Immerhin: Die wichtigsten Mauer- Prozesse sind gelaufen. Jetzt endlich, so Henrich, sollte man die "Aufarbeitung" der Kunst überlassen. Während die Justiz nur zwischen Schuld und Unschuld, Gut und Böse unterscheidet, könne die Kunst, im Theater, im Roman, differenzieren.

In Henrichs Erzählung "Die Schlinge", die der Eichborn-Verlag - pünktlich zum 40. Jahrestag des Mauerbaus - gerade in die Läden bringt, geht es um einen Prozess, ganz ähnlich dem, den der Anwalt Henrich selbst geführt hat, es geht um die Möglichkeit der Staats- Strafe. Der Autor Henrich spart sich jeden offensichtlichen Kommentar. Was bleibt, ist die Ratlosigkeit. Zeit der Verwirung Und, immerhin, das Wissen, dass Gut und Böse nicht zu trennen sind: Der angeklagte Grenzgeneral der Geschichte war früher ein Spanienkämpfer (in der Hymne derer, die gegen Franco in den Krieg zogen, hieß es: "Wir kämpfen und siegen für dich - Freiheit."). "Dass so einer in der DDR zu den Kerkermeistern gehörte, um diese existenzielle Verwirrung geht es", sagt Henrich, der Abgeklärte, der gänzlich Unverwirrte. Dass die DDR so lange Gefängnis sein konnte, liege gerade daran, dass sie auf den besten Vorsätzen gegründet war.

Rolf Henrich hat lange genug selbst daran geglaubt, er war mal verwirrt. So ist er sich auch sicher, dass die Sühne für die Verbrechen des "vormundschaftlichen Staates" nicht allein eine Sache von ein paar Befehlsgebern und Befehlsempfängern sein kann.

Rolf Henrich hat vor 13 Jahren das Gurkenglas mit dem Zweitmanuskript seiner DDR-Abrechnung in der Erde verbuddelt, weil er ahnte, dass die Stasi scharf darauf wäre. Als der Text im Westen veröffentlicht wurde, verlor das Ersatzdokument unter der Erde seine Brisanz. Ein Fernsehteam vom ZDF hat das Glas jetzt ausgebuddelt, der Autor musste sich mit dem Spaten an die Grube stellen. Naja, wenn die ihre Bilder brauchen.

Denn was ist denn Nostalgie? Die Sehnsucht nach Vergangenem: ähnlich wie die Rache ein Unwille, die Zeit anzuerkennen, das Vergehen.