Der Eigensinnige
ZUR PERSON: ROLF HENRICH

© Berliner Morgenpost; vom 06.08.2001 / S. 4

 

Am 11. März 1990, das war exakt eine Woche vor der ersten und letzten ffeien Volkskammerwahl in der DDR, begab sich im Deutschen Nationaltheater zu Weimar eine Podiumsdiskussion. Veranstalterin war die Westberliner Publizistin Lea Rosh, und auf der Bühne saßen, außer ihr, zum Beispiel der SPD-Politiker Erhard Eppler, der Publizist Peter Bender und der Autor dieser Zeilen. Das große Einleitungsreferat hielt der Rechtsanwalt Rolf Henrich, damals in vieler Munde, da er im Herbst 1989 Mitbegründer der DDR-Bürgerbewegung "Neues Forum" gewesen war; der Auflösung der SED-Diktatur hatte er außerdem zugearbeitet durch sein Buch "Der vormundschaftliche Staat", eine gnadenlose Abrechnung mit den Praktiken des Spätstalinismus; im Frühjahr 1989 war es in Westdeutschland erschienen.

Damit wurde Henrich weithin bekannt. Man erfuhr, dass er, 1944 geboren, als junger Mensch engagiertes Mitglied der DDR-Jugendorganisation FDJ gewesen war und eine weitgehend problemlose Karriere als DDR-Rechtsanwalt hinter sich gebracht hatte. Der ostdeutsche Stant begriff das Justizwesen nicht als unabhängige Kraft im Sinne der Gewaltenteilung, sondern als parteiisches Instrument zur Durchsetzung seiner Herrschaftsinteressen. Henrich hatte sich solcher Praxis bedingungslos zugeordnet, zunächst. Er erhielt etliche Auszeichnungen, im Anwaltskollegium im Bezirk Frankfurt/Oder kürte man ihn zum SED-Parteisekretär.

Zweifel an dem, was er da tat, wuchsen ihm aus zwei Richtungen zu. Er las das ausschließlich im Westen erschienene Buch "Die Alternative" des DDR-Autors Rudolf Bahro, das der Stagnation des osteuropäischen Leninismus die kritische Befragung marxistischer Quellen entgegen setzte; sein Verfasser wurde daraufhin in Ostberlin verhaftet und verurteilt, schließlich in die Bundesrepublik abgeschoben. Außerdem begann Henrich, sich mit der Anthroposophie Rudolf Steiners zu befassen, was ihn wie von selbst dem Leninismus entfremdete. Resultat von alledem wurde das Buch über den vormundschaftlichen Staat. Seine Edition machte die Parallelen zu Bahro unübersehbar.

Die offizielle DDR freilich reagierte in diesem Falle anders, Innerlich schon zu marod, um sich noch zu stalinistischer Gewaltanwendung zu entschließen, ließ sie Henrich aus dem Anwaltskollegium entfernen, auch die SED- Mitgliedschaft verlor er, sonstige Verfolgungen aber erlebte er nicht. Ein halbes Jahr später brach der Honecker-Staat zusammen. Henrich gehörte zu den ersten Aktivisten des Umbruchs.

Es war eine zutiefst von anthoposophischen Gedanken durchdrungene Rede, die er an Jenem Märzsonntag in Weimar hielt, zu unser aller Verblüffung, die wir den Kopf voll hatten mit unmittelbaren Aktualitäten wie der möglichen Wiedervereinigung Deutschlands und der Zukunft der Nato. Er war eben dabei, sich aus der Tagespolitik zurückzuziehen.

Längst hatte er sich entzweit mit dem übrigen Führungspersonal des Neuen Porums, das seinen immer mehr schwindenden Einfluss indessen nicht wahrhaben wollte. Henrich hatte ihn frühzeitig erkannt. Er wurde nun wieder, was er vorher gewesen war: ein fleißiger und erfolgreicher Anwalt. Das ist er bis heute geblieben. Sein Spezialgebiet sind Wirtschaftssachen. Immer noch bewohnt er, wie schon vor 1989, ein aufgelassenes Schleusenwärterhäuschen im Oderbruch, nah bei der Natur und fernab der städtischen Zivilisation. Er ist eigensinnig wie je und verfolgt einmal getroffene Entscheidungen bis in die äußerste Konsequenz, so auch im Falle seines neuen Buchs. Inwieweit man ihn künftig auch als Belletristen akzeptieren wird, muss man sehen, doch sein Debüt als Erzähler dürfte nicht zu allererst als ästhetisches Ereignis begriffen werden.