Ein Bürgerrechtler ohne Nostalgie und Zorn: Rolf Henrich

© Martin Müller, Die Welt; vom 27.05.2000 / 123 / S. 11

 

Bei Ezra Pound heißt es in einem Gedicht:

"Zeit ist das Übel, Zeit." Ein Satz, den Rolf Henrich gerne zitiert, wenn einer nach seinem Leben im "Gestern" und "Heute" fragt. "Wer in der Vergangenheit lebt" , sagt Henrich, wird ihr Sklave oder ein Schwärmer. Henrich ist beides nicht. Und das, obwohl er Gründe genug dafür hätte.

In der Wende-Zeit erlebte "er seine glücklichste Zeit". Mit Bärbel Bohley und Katja Havemann rief er als einer der ersten drei das Neue Forum ins Leben. Am Freitag wurde er mit den Bürgerrechtlern geehrt und erhielt den Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung. Henrich aber ist mehr als einer, der vor elf Jahren mutig war. Mit einem Buch hat er so etwas wie die geistige Initialzündung gelegt, für einen Prozess, in dem die Zeit dann aus den Fugen geriet, geschichtliche Ereignisse sich überschlugen. Als 1987 im Westen sein Buch "Der vormundschaftliche Staat" erschien, schlug das wie eine Bombe ein. Henrich, Anwalt, Parteimitglied und jahrelanger Sekretär im Frankfurter Kollegium der Rechtsanwälte",hat sein Visier hochgeklappt", hat mit dem Kampf begonnen. Niemand seiner Parteigenossen hatte geahnt, dass ausgerechnet Henrich radikal mit der DDR abrechnen würde. In seinem Buch ging er über den Systemkritiker Rudolf Bahro hinaus. Statt des Bahroschen "dritten Weges", einer sozialistischen Alternative zum Staatssozialismus, sah Henrich die DDR als ein Land, dem die Aufklärung abhanden gekommen war, als einen Staat, der seinen Bürgern grundsätzliche Menschenrechte verweigerte.

Henrich forderte seine Mitbürger auf, sich die Mündigkeit zu erobern. Er war ein Anstifter. Der Denker aus Leidenschaft war vorbereitet, fühlte sich befreit und dachte",nun geht es los". Er schmuggelte Videoaufnahmen in den Westen, in denen er zum zivilen Ungehorsam aufrief, und wurde zur öffentlichen Person. Neben Bärbel Bohley stand Henrich, der mit dem intellektuellen Konzept. Für kurze Zeit wurde er zu einer Ikone der Wende. Heute aber scheint er der Öffentlichkeit verloren gegangen. Sein Buch ist selbst in den größten Bibliotheken unauffindbar, sein vor drei Jahren veröffentlichtes neues Buch über den Balkan-Krieg ("Gewalt und Form in einer vulkanischen Welt") wurde kaum wahrgenommen. Rolf Henrich ist nur noch dem Wende-Aktivisten ein Begriff. Ist er enttäuscht oder resigniert? "Nein, ganz im Gegenteil, ich will nicht zurück, und ich genieße das Leben. " Der Mann, der in Eisenhüttenstadt als Wirtschaftsanwalt arbeitet, wohnt mit seiner Familie in einem alten Schleusenwärterhaus aus Backstein. Kilometer entfernt von dem nächsten Dorf, irgendwo zwischen Eisenhüttenstadt und der polnischen Grenze, umgeben von Wald und schmatzendem Morast. Die Politik war nur ein Übergang, "eine dämonische Notwendigkeit". Nach der Wende bot man ihm einige Posten an, Oberster Richter der DDR sollte er werden oder Staatssekretär im Brandenburgischen, Henrich lehnte ab.

"Das Geklapper ist nicht meine Art", stellt er trocken fest. Ein anderer Grund: die Befreiung der eigenen Person.

Vielleicht aber ist es auch das Mittelmaß, das er hasst, entweder "ich bin ganz heiß oder eiskalt". Zurzeit wirkt er kalt, viel hagerer als früher, aber auch konzentriert, als gäre es in ihm. Diesmal vielleicht ist es die Prosa. In "einer längeren Erzählung", an der Henrich gerade arbeitet, ist der Protagonist ein Anwalt. Wie Henrich selbst hat er 15 Jahre im DDR- Rechtssystem gearbeitet und zehn Jahre nach dem "jetzigen Grundgesetz". Jetzt muss er einen General verteidigen, der für einige Mauertote verantwortlich ist.

Der Verteidiger muss sich durch den General mit seinen Wurzeln beschäftigen, mit Rechtfertigungssystemen, die sich aus Erfahrungen der Jugendzeit begründen - auch Henrich hat als junger Mann an die Notwendigkeit der Mauer geglaubt. "Zeit ist das Ubel, Zeit." Die Geschichte, auf die sich Pound bezieht, geschah im 14. Jahrhundert in Portugal. Die Geliebte des Thronfolgers Pedro wird von dessen Vater getötet. Als Pedro an die Macht kommt, lässt er sofort alle hinrichten, die am Tod seiner Geliebten beteiligt waren. Dann gräbt er die Leiche aus, schmückt sie und läßt das Volk salutieren. Ein spanischer Künstler malte dazu ein Bild, das den Namen trägt: "Der Rächer oder der Gerechte" . So nah liegt im Glauben an Recht der menschliche Irrtum neben der Wahrheit.